Analyse von Ulrich Reitz – Deutschland schlittert führungslos in die vierte Welle: Wo sind Merkel und Scholz?

Analyse von Ulrich Reitz – Deutschland schlittert führungslos in die vierte Welle: Wo sind Merkel und Scholz?

8. November 2021 Aus Von mvp-web

Die Corona-Lage in Deutschland eskaliert. Und was machen Angela Merkel und Olaf Scholz? Sie schweigen. Dabei braucht das Land gerade jetzt eine ruhige Hand – und besser zwei Bundeskanzler als gar keinen.

In Rom war alles so einfach. Die ewige Stadt, die Kanzlerin, beide in ihrem Herbstlicht, und eine Gruppe von staunenden Staats- und Regierungschefs, der US-Präsident inklusive. Das Staunen hatte einen Grund: Aus Deutschland angereist zum G-20-Gipfel waren gleich zwei Bundeskanzler.

Angela Merkel und Olaf Scholz inszenierten den Machtwechsel in Deutschland als unaufgeregte Normalität. Ein Signal demokratischer Selbstverständlichkeit in aufgeregten Zeiten. Ein Regierungswechsel nach 16 Jahren – für die Deutschen kein großes Problem, aus Berlin business as usual. Kontinuität – das war das Signal an die politische Elite der industriellen Welt.

Corona-Lage in Deutschland eskaliert – und Merkel und Scholz schweigen einfach

Nach außen. Gerade würde man sich ein solches Signal auch nach innen wünschen. Aber Deutschland, das ist aktuell ein von Corona geschüttelter Ort. Und dort, wo man sich wünscht, ein Führungsmensch möge die Dinge von oben her ordnen, herrscht: Stille. Es ist die Ruhe politischer Schwerelosigkeit.

Merkel hat zigmal versprochen, bis zu ihrem allerletzten Tag im Kanzleramt regieren zu wollen. Und während auf dem römischen Gipfel Olaf Merkel und Angela Scholz offiziell mit dem doch üblichen Duo von Regierungschef und Finanzminister erklärt wurde, ließ Scholz sich schon mal von den Kollegen in spe abscannen als Deutschlands neuer Regierungschef.

Und jetzt? Das Scholzomerkel schweigt. Und vergrößert das politische Vakuum. Gerade jetzt – die Corona-Zahlen explodieren, die Debatte eskaliert zwischen 2G, Test- und Impfpflichten – wäre eine ruhige Hand eine Hilfe. Mindestens eine Orientierung. Ein wichtiges Signal an eine zunehmend verunsicherte Bevölkerung.

Wäre Berlin gleich Rom, Deutschland hätte nun zwei Kanzler. Die sich einig sind. Und gemeinsam mit den Ministerpräsidenten den vielleicht letzten Schlachtplan gegen den großen Corona-Feind erarbeiten – und durchsetzen, in einer ganz großen Koalition.

Deutschland hat gerade nicht zwei Bundeskanzler, sondern gar keinen

So ist es aber nicht. Deutschland hat gerade nicht zwei Bundeskanzler, nicht einmal zwei halbe, die sich zu einem addieren könnten. Sondern: gar keinen. Das ist seltsam.

Rechtlich ist die Sache klar. Nirgendwo steht, dass ein Geschäftsführender Bundeskanzler ein Regierungschef von minderem Recht ist. Merkel hat die exekutive Macht, sie könnte sogar auf eine Mehrheit im Parlament pochen für ihre Corona-Politik Marke „Team Vorsicht“. Die GroKo ist schließlich noch nicht beendet.

Täte Merkel sich, wie auf internationalem Parkett, auch im Innern mit Scholz zusammen, um die Corona-Dinge zu ordnen – wer sollte ihr in den Arm fallen? Aus Scholz’ Sicht sieht die Angelegenheit indes komplizierter aus.

Seine Macht ist eine Hoffnung, Merkels Macht ist eine Realität. Das ist kein kleiner Unterschied. Ein wahrscheinlicher Bundeskanzler hat keine Richtlinienkompetenz. Und noch viel weniger Autorität.

Das sieht man gerade. Die erste Maßnahme der noch nicht installierten neue Ampel-Koalition soll es sein, die pandemische Lage nationaler Tragweite außer Kraft zu setzen. Dafür mag es Gründe geben, der wichtigste: dem Parlament die Hoheit über die Einschränkung individueller Freiheiten in Corona-Zeiten zurück zu geben.

Der erste grobe kommunikative Fehler der Ampel bahnt sich an

Nur: Es sieht eben so aus, als ob dieser Schritt sich als der erste grobe kommunikative Fehler der noch gar nicht einigen neuen Koalition entpuppt. Und zwar, weil das ganze so aussieht, als ob der viel beschworene Neuanfang nach den angeblich so bleiernen Merkel-Jahren darin bestünde, die Pandemie für beendet zu erklären.

Dagegen schießen Unionsleute aus allen Kanonen. Sachsens Regierungschef Kretschmer ebenso wie Bayerns Regent Markus Söder. Oder eben der Kanzleramtsminister. Helge Braun kann man getrost unterstellen, dass er keinen Schritt ohne seine Vorgesetzte macht. Brauns Vorwurf an die Adresse von Scholz ist wuchtig: Verantwortungslosigkeit.

Scholz hat gerade viel zu tun. Um „seine“ Wunschkoalition steht es just nicht besonders gut. Was an den Grünen liegt. Sie machen gerade die Erfahrung, dass zwischen Regierung und Opposition ein sehr großer Unterschied besteht. Es ist der zwischen Reden und Handeln.

Der erste Grüne – er entstammt der von Winfried Kretschmann geführten Regierung in Baden-Württemberg – hat schon das Wort „Neuwahl“ öffentlich in den Mund genommen. Damit nicht genug: Die grüne Parteichefin mobilisiert – ein einmaliger Vorgang – die Grüne Lobby gegen die eigenen Koalitionspartner in spe; was sicher keine vertrauensbildende Maßnahme ist.

Scholz hat nur wenig Zeit, um bei Corona schon mal den Kanzler zu geben

Man stelle sich einen Moment lang vor, Christian Lindner würde den Bund der Steuerzahler öffentlich animieren, gegen die rot-grünen Steuer-Erhöhungsträume zu trommeln.

Schon stellen führende Verhandler – noch intern – den ehrgeizigen Zeitplan von Scholz für die Ampel-Verhandlungen infrage. Schon an diesem Mittwoch sollen die gut 200 Verhandler fertig werden. Wonach es aber nicht aussieht.

Scholz hat also nur wenig Zeit, um bei Corona schon mal den Kanzler zu geben. Er muss es erst einmal werden. So lange bleibt Deutschland in einer Art Niemandsland. In einer solchen  Transitzone ist man zwar abgereist, aber noch nicht angekommen.