Ein harter Lockdown war laut Forscher unausweichlich

15. Dezember 2020 Aus Von mvp-web
Ausgangsbeschränkungen plus Schulen, Kitas und Einzelhandel dicht – ab Mittwoch geht Deutschland erneut in den harten Lockdown. FOCUS Online hat mit namhaften Forschern berechnet, was die Maßnahmen bringen und ob sie wirklich nötig sind.

Kurz vor Weihnachten kommt die Hiobsbotschaft, die sich keiner gewünscht, aber jeder schon erwartet hat: der erneute, harte Lockdown wie im Frühjahr.

Neben Hotels, Restaurants, Sport- und Freizeiteinrichtungen müssen ab 16. Dezember auch Geschäfte, die nicht zum täglichen Leben notwendig sind, bis mindestens 10. Januar schließen. Kitas und Schulen stellen noch vor den Weihnachtsferien den Betrieb ein und Bürger sind dazu angehalten, ihre Häuser nur noch für dringend notwendige Zwecke wie Arbeit, Arztbesuche und Lebensmitteleinkäufe zu verlassen.

Ein harter Lockdown war laut Forscher unausweichlich

Muss das sein? Das ist die brennende Frage, die derzeit ganz Deutschland bewegt. Denn die wirtschaftlichen Folgen dieser Maßnahmen sind verheerend und bringen ganze Branchen an den Rand ihrer Existenz – trotz staatlicher Trostpflaster und Finanzhilfen. Von den psychischen Folgen ganz zu schweigen.

„Der Lockdown Light im November hat nicht die gewünschten Resultate gebracht – die Neuinfektionsraten blieben auf hohem Niveau und die Todeszahlen sind gestiegen, so dass etwa 500 Menschen pro Tag sterben“, sagt der Forscher Dirk Brockmann von der Humboldt Universität in Berlin gegenüber FOCUS Online. Der Physiker und Mathematiker berechnet für das Robert-Koch-Institut den Verlauf der Pandemie und gehört der Wissenschaftsgesellschaft Leopoldina an, die auch die Kanzlerin berät.

„Wenn wir das Infektionsgeschehen nicht deutlich eindämmen und die Zahl der Neuinfektionen auf jetzigem Niveau bleiben, müssen wir damit rechnen, dass die Sterbefälle zum Ende des Monats auf über 30.000 steigen“, mahnt der Wissenschaftler. Bisher sind bereits über 22.000 Menschen in Deutschland an den Folgen einer Sars-CoV-2-Infektion gestorben.

Und auch die Anzahl der Covid-19-Patienten auf Intensivstationen hat stark zugenommen: Derzeit benötigen über 4700 Menschen mit nachgewiesener Corona-Infektion intensivmedizinische Betreuung. Laut der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv und Notfallmedizin (Divi) sind derzeit 22.390 von 27.132 betreibbaren Intensivbetten belegt – das entspricht einer Auslastung von 82,5 Prozent.

Kontaktzahlen müssen um mindestens 60 Prozent eingeschränkt werden

Ein Grund, warum uns Corona gerade in Deutschland entgleitet, liegt an der zu hohen Anzahl sozialer Kontakte, analysiert Brockmann weiter. „Wir haben anhand unserer Modelle gesehen, dass die Menschen schon vor Beginn des Lockdown-Light ihre Kontakte um 40 Prozent reduziert haben, das genügt aber nicht. Wir müssten wie im Frühjahr mindestens auf 60 Prozent weniger soziale Interaktionen kommen, damit die Infektionszahlen nach unten gehen.“

Da die Anzahl der Kontakte in den letzten Wochen wohl bedingt durch eine Corona-Müdigkeit und die Vorbereitung auf Weihnachten wieder zugenommen hat, scheine ein harter Lockdown das wirksamste Mittel, um die Zahlen schnell nach unten zu bringen, so der Wissenschaftler.

Von 20.000 auf 1000 Infektionen durch Knallhart-Lockdown in Belgien

Als Beispiel dafür führt Brockmann Belgien an, das noch vor eineinhalb Monaten die höchsten Infektionszahlen in der EU mit einer 14-Tage-Inzidenz von 1700 Fällen pro 100.000 Einwohner meldete. „In Belgien zum Beispiel hat sich gezeigt, wie schnell das Infektionsgeschehen durch die richtigen Maßnahmen nach unten gefahren werden kann“, führt Brockmann aus. So seien in dem Land mit circa elf Millionen Einwohnern nach einem dreiwöchigen, harten Lockdown die Fallzahlen von 20.000 Infizierten pro Tag im Oktober auf mittlerweile etwas mehr als 1000 gesunken.

Aus wirtschaftlichen Gründen solche Maßnahmen zu vermeiden, hält Brockmann für den falschen Weg. Das zeigten auch viele ökonomische Studien: „Eine Pandemie, die sich frei entfaltet oder auf hohem Niveau stabilisiert wie bei uns, richtet einen viel größeren wirtschaftlichen Schaden an als ein drei- oder vierwöchiger harter Lockdown.“

Der R-Wert noch viel zu hoch in Deutschland

Doch wo genau stehen wir dann am 10. Januar in puncto Infektionsgeschehen durch die harten Lockdown-Maßnahmen? Thorsten Lehr, Professor für Klinische Pharmazie an der Universität des Saarlandes, hat das berechnet. Zusammen mit Kollegen hat der Forscher einen Covid-Simulator entwickelt, der anhand eines mathematischen Modells das Infektionsgeschehen der nächsten Wochen im gesamten Bundesgebiet hochrechnen kann.

Als Grundlage dafür dienen unter anderem Zahlen des Robert-Koch-Instituts (RKI), der Gesundheitsämter sowie klinische Daten von über 10.000 hospitalisierten Covid-19-Patienten aus über 100 Kliniken im Bundesgebiet.

„Der R-Wert in Deutschland ist seit letzter Woche wieder etwas gestiegen und liegt nun bei 1,2“, erklärt Lehr im Gespräch mit FOCUS Online. Das bedeutet, eine Person steckt im Schnitt 1,2 Personen an. Hochgerechnet auf ganze Zahlen bedeutet dies, dass zehn Infizierte 12 weitere Personen anstecken.

„Mit diesem Wert müssen wir, falls der Lockdown gar nicht wirkt, bis Weihnachten mit einer 7-Tage-Inzidenz von 267 Fällen pro 100.000 Einwohner rechnen, was durchschnittlich bundesweit 34.000 Fällen pro Tag entspricht.“ Bis 10. Januar brächte uns diese fatale Entwicklung auf 56.000 Neuinfizierte pro Tag.

Auch mit niedrigem R-Wert noch viel zu hohe Zahlen in Deutschland

Ein Szenario also, dass wir auf jeden Fall vermeiden sollten. Doch um die Lage bis Weihnachten zu verbessern, ist es schon zu spät. Denn sämtliche Maßnahmen machen sich aufgrund der langen Inkubationszeit des Virus frühestens nach zwei Wochen bemerkbar.

„Würden wir ab Mittwoch (16.12.2020) den R-Wert wie im ersten Lockdown auf 0,6 senken können, hätten wir bis Weihnachten immer noch eine 7-Tage-Inzidenz von knapp 180 Fällen pro 100.000 Einwohner“, rechnet Lehr vor. Am 10. Januar läge diese dann bei knapp über 65 Fällen pro 100.000 Einwohner. Um Lockerungen zuzulassen, muss der Wert aber deutlich unter 50 liegen.

Blickt man auf die Zahl der Neuinfektionen, wären wir bei einem R-Wert von 0,6 am 10. Januar noch immer bei knapp 6500 Fällen pro Tag, die tägliche Todeszahl läge bei rund 400 – also immer noch viel zu hoch.

Die Tabelle zeigt die Entwicklung der 7-Tage-Inzidenz bei unterschiedlichen R-Werten

Thorsten Lehr, Uni Saarland Die Tabelle zeigt die Entwicklung der 7-Tage-Inzidenz bei unterschiedlichen R-Werten

Realistischer R-Wert durch harten Lockdown liegt bei 0,8

„Dass wir den R-Wert durch die Maßnahmen ab 16. Dezember auf 0,6 senken, halte ich aber für sehr optimistisch“, erklärt Lehr. „Wir werden wahrscheinlich bei einem Wert von 0,8, wenn es gut läuft, von 0,7 landen.“

Bei einem R-Wert von 0,7 prognostiziert der Covid-Simulator an Weihnachten noch immer mehr als 17.000 Neuinfektionen pro Tag  – die Inzidenz läge bei über 170 Infektionen pro 100.000 Einwohner und die Rate der durchschnittlichen Todesfälle täglich bei über 400.

Diese Tabelle zeigt wie sich die Fallzahlen durch unterschiedliche R-Werte entwickelt

Thorsten Lehr/Uni Saarland Diese Tabelle zeigt wie sich die Fallzahlen durch unterschiedliche R-Werte entwickelt„Anhand dieser Zahlen zeigt sich also, dass die Maßnahmen hätten früher kommen sollen“, sagt Lehr. Und es zeige sich auch, dass ein Lockdown bis zum 10. Januar wahrscheinlich nicht ausreicht, um das Infektionsgeschehen nachhaltig in den Griff zu bekommen.