Maßnahmen sinnlos? Nach Lockdown-Aussage hagelt es Kritik an Kassenarzt-Chef Gassen

17. Dezember 2020 Aus Von mvp-web
Mit seinen öffentlich gezeigten Zweifeln am Nutzen der Lockdown-Regeln hat der Vorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Andreas Gassen, bei Bundespolitikern tiefe Verärgerung ausgelöst. „Nassforsch“ findet SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach die Äußerungen. Und: „nicht ungefährlich“.

Die Lage ist sehr ernst, und die Worte zielen genau ins Zentrum der aktuellen Politik. „Ein Lockdown ist eine Notbremse und keine geeignete langfristige Strategie, um die Zahl der Todesfälle nachhaltig deutlich zu senken“, hatte der Vorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Andreas Gassen, im Interview mit den RND-Zeitungen gesagt. Es brauche stattdessen mehr Anstrengungen, um Risikogruppen zu schützen. Er rechnet mit einem Scheitern der Maßnahmen. Schon der „Lockdown light“ im November hätte „fast nichts gebracht“.

Harte Worte in einer sehr harten Zeit: Das Land wurde gerade ein zweites Mal in den Lockdown geschickt. Große Teile des öffentlichen Lebens sind runtergefahren, Einzelhändler und Gastronomen fürchten um ihre Existenz. Die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten haben vor wenigen Tagen mit der Vollbremsung für Deutschland alles auf Stopp gesetzt. Angesichts von fast 30.000 Corona-Neuinfektionen täglich, dramatischen Engpässen auf Intensivstationen und einer rasant steigenden Zahl der Sterbefälle sahen sie sich dazu gezwungen.

In dieser Phase ist die Äußerung Gassens hochbrisant. Für die Regierungen sind sie ein echter Schlag ins Kontor. Die Reaktionen fallen entsprechend heftig aus.

Lauterbach: „Gassen spricht hier nicht im Golfclub“

„Es ist nicht ungefährlich, was Herr Gassen hier macht. Er stellt ohne gute Begründung die Lockdown-Strategie, für die wir derzeit werben müssen, infrage“, kommentiert der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach das Interview. Gassen müsse nun „gute Gründe benennen“. Denn, so Lauterbach: „Er spricht hier nicht am Tresen, im Golfclub oder unter Kollegen, sondern er äußert sich öffentlich in seiner Funktion als Standesvertreter.“

Der Vorwurf, dass die gesamte Strategie der Bundes- und der Landesregierungen nicht tauge, sei so „extrem radikal“, dass Gassen ihn belegen und eine präzise Alternative aufzeigen müsse. „Auf welche Studien beruft er sich? Was sind seine Erkenntnisse? Was weiß er, was die ausgewiesenen Koryphäen der Epidemiologie oder der Virologie nicht sehen?” Die Einlassungen des KBV-Chefs empfinde er fürs erste als „nassforsch“. In einer Phase, in der Politikerinnen und Politiker die Leute gewinnen müssten für die Schutzmaßnahmen, sei ein solches Signal „definitiv nicht hilfreich“, rügt Lauterbach.

Nüßlein: „Wasser auf die Mühlen der Falschen“

Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Georg Nüßlein (CSU), ist sauer auf den KBV-Chef. Stinksauer. „Es ist offenbar eine einseitige persönliche Stellungnahme von seiner Seite“, sagt der CSU-Politiker FOCUS Online. „Ich würde Herrn Gassen dringend raten, dass er sich erst einmal mit seiner Ärzteschaft abstimmt, bevor er solche Interviews gibt“. Die „breite Mehrheit der Ärzte“ sei anderer Auffassung. Gassens Vorstoß sei erkennbar vor allem „dem Versuch geschuldet, Schlagzeilen zu machen“.

Nüßlein zeigt sich besorgt über die mögliche Wirkung des Signals. Er spüre einen gewissen Pandemie-Verdruss, sagte Nüßlein. Der sei auch verständlich. Jetzt aber gelte es, „durch diese Zeit durchzukommen“. Aussagen wie die Sätze Gassens könnten in dieser Phase „Wasser auf die Mühlen der Falschen“ sein, fürchtet Nüßlein.
Aussagen stoßen bei Bundesregierung auf UnverständnisAuch in Führungskreisen der Bundesregierung ist von „Unverständnis“ über die Äußerungen des Kassenarzt-Chefs die Rede. Schon vor einigen Wochen hatte er Irritationen ausgelöst.

Lauterbach kann sich denn auch beim Blick auf Gassen noch einen weiteren Hinweis nicht verkneifen. „Herr Gassen ist möglicherweise jenseits seiner Fachkompetenz unterwegs“, sagt er. Dezente Erinnerung: Der KBV-Vorsitzende ist als Unfallchirurg und Orthopäde fachlich vielleicht nicht die erste Anlaufstelle für Einschätzungen zur Pandemie. In der Tat hielten die meisten namhaften Virologen die Lockdwon-Entscheidung der Spitzenpolitiker von Bund und Ländern für fällig oder gar überfällig.

Virologen: Fokus auf Risikogruppen „unethisch”

Aus den Reihen der Virologen kam denn auch gerade erst wieder die Warnung, dass eine nur aufs Abschirmen von Risikogruppen zielende Pandemiebekämpfungs-Strategie nicht funktioniere. Die Risikogruppen seien „viel zu zahlreich, zu heterogen“, um sie aktiv abschirmen zu können, bekräftigt die Gesellschaft für Virologie (GfV) gestern erst wieder. Am Ende seien ohnehin weite Teile der Bevölkerung den Risikogruppen zuzuordnen. Deswegen sei eine Strategie, die sich auf diesen Kreis fokussiere, „weder umsetzbar noch ethisch vertretbar“.

Auch bei Gassens eigenen Standesvertretern brodelte es den Tag über. Am Nachmittag schließlich gab es kaum getarnte Kritik an Gassens Interview-Äußerungen.

Norbert Metke, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg, befand, der aktuelle Lockdown sei „zwingend erforderlich angesichts der Pandemieentwicklung der vergangenen Wochen“ und müsse „hart durchgesetzt werden.“ Und er schob – kleiner Wink an Gassen –  einen ausdrücklichen Dank an den Bundesgesundheitsminister „für das bisherige exzellente Krisenmanagement“ nach. Metkes Vize Johannes Fechner ergänzte: Es brauche jetzt einen wissenschaftlichen Diskurs „in den dafür zuständigen Gremien, aber nicht in der durch diese Diskussionen zunehmend verunsicherten Öffentlichkeit“. Botschaft an den KBV-Chef: Keine verwirrenden Störsignale, schon gar nicht jetzt.