„Zu wenig, zu spät, zu schlecht koordiniert“: Harsche Kritik am Impfstart

26. Dezember 2020 Aus Von mvp-web
Am Sonntag startet die bisher wohl größte Impfkampagne in Deutschland. Viele Millionen Menschen wollen sich immunisieren lassen. Einen Tag vor Beginn kam am Samstag der Impfstoff in den einzelnen Bundesländern an – doch zunächst nur in homöopathischer Dosierung.

Die Bundesregierung hat am Samstag mehrere zehntausend Dosen der Firma Biontech an insgesamt 27 Standorte in ganz Deutschland liefern lassen. Von dort werden sie in die rund 440 Impfzentren weiter verteilt. Zuerst sollen Menschen über 80 Jahre sowie Pflegekräfte und besonders gefährdetes Krankenhauspersonal geimpft werden. Doch in den Impfzentren kommt bislang kaum etwas vom heißbegehrten Gut an.

In Nordrhein-Westfalen, dem bevölkerungsreichsten Bundesland, werden anfangs nur 9750 Dosen des Biontech-Pfizer-Impfstoffs ausgeliefert. Die Folge: Pro Kreis und kreisfreier Stadt stehen 180 Dosen für die 53 NRW-Impfzentren zur Verfügung. Den Mangel verwalten dann die jeweiligen Kassenärztlichen Vereinigungen – sie nennen für jede Stadt die jeweils zu beliefernden Alten- und Pflege-Einrichtungen, die die mobilen Impf-Teams dann ansteuern sollen.

„Beim Impfen droht ähnliches Chaos wie bei den Tests“

Ähnlich mager sieht es in Bayern aus, wo bei 9750 Impfdosen für den gesamten Freistaat so nicht einmal 100 Dosierungen für jedes der 99 Impfzentren zur Verfügung stehen. Von der Opposition kommt denn auch prompt scharfe Kritik: „Zu wenig, zu spät, zu schlecht koordiniert: Beim Impfen droht ein ähnliches Chaos wie bei den Tests im Sommer“, sagt Martin Hagen, FDP-Fraktionschef im Bayerischen Landtag zu FOCUS Online. „Dass in den USA schon eine Million Menschen geimpft wurden, während Münchner Kliniken noch auf die ersten Dosen des Vakzins warten, ist peinlich. Der Staat ist bei Einschränkungen für die Bürger leider immer deutlich schneller bei der Hand als bei der Erledigung seiner Hausaufgaben.“

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) verkündete am Samstagvormittag gegenüber der Presse zwar die „frohe Weihnachtsbotschaft“ vom Impfstart, bemühte sich aber den Ball flach zu halten. „Es ist ein Anfang“, sagte Spahn. „Wir werden erst Mitte des Jahres in die Fläche gehen können. Die Jüngeren müssen sich gedulden, die Höchstbetagten kommen zuerst.“

Das zähe Anlaufen bei der Versorgung mit dem Impfstoff begründete Spahn damit, dass man vorher nicht habe wissen können, welcher Impfstoff zuerst zur Verfügung stehe – Astra Zeneca, Moderna oder Biontech. „Anfangs hat man auf alle Pferde gesetzt“, erklärte der Minister. Jetzt werde die Produktion von Biontech/Pfizer hochgefahren. Auch von Moderna erwarte man im ersten Quartal noch 1,5 Millionen Impfdosen.

Grüne appellieren nur an Solidarität, Patientenbund beklagt Flickenteppich

Bei der Grünen-Sprecherin für Infektionsschutz im Bundestag, Kordula Schulz-Asche, kommt angesichts des Impfstarts zumindest leichte Hoffnung auf. „Bis der Großteil der Menschen geimpft sein wird, dauert es noch einige Monate“, fügte Schulz-Asche allerdings hinzu. „Das Coronavirus wird unser gesellschaftliches und privates Leben auch im kommenden Jahr weiter prägen.“ Jetzt müsse man abwarten, wie die weitere Organisation auf Kreisebene ablaufe, sagte Schulz-Asche zu FOCUS Online: „Die Kommunikation mit den Menschen zur Priorisierung einzelner Berufs- und Altersgruppen ist jetzt wichtig, weil wir kein Chaos gebrauchen können.“

Mit harscher Kritik gegenüber der Union halten sich die Grünen jedoch zurück. Stattdessen appellieren sie an „Solidarität, die gegenseitige Rücksichtnahme und das Einhalten der AHA+L-Regeln, um Menschenleben zu retten“.

Dass jedes Bundesland sein eigenes Impf-Süppchen kocht, bemängelt Eugen Brysch, der Vorstand der Stiftung Patientenschutz. „Es ist fatal, dass sich Spahn und die Länder bei der Impfkampagne nicht auf ein einheitliches Vorgehen verständigen konnten“, sagte Brysch. Noch immer sei unklar, wie das Prozedere vor Ort tatsächlich aussehe. Bei der Kontaktaufnahme, der Nutzung von Hotlines oder der Benachrichtigung der Bürger gehe jedes Bundesland seinen eigenen Weg. Deutschland setze erneut „auf einen Flickenteppich“.

Die Linke will den Biontech-Impfstoff nachproduzieren lassen

Die Linke weißt ebenfalls auf Versäumnisse hin – etwa, dass es noch immer kein Konzept gebe, Menschen in häuslicher Pflege einzubeziehen. „Ich fordere Gesundheitsminister Spahn dazu auf, den Hersteller des Impfstoffs zu zwingen, Lizenzen zur Herstellung des Impfstoffs an andere Hersteller zu vergeben, damit sehr schnell große Mengen zur Verfügung stehen“, sagte Achim Kessler, gesundheitspolitischer Sprecher der Linken im Bundestag, zu FOCUS Online.

Diese Möglichkeit habe der Gesundheitsminister durch das Erste Bevölkerungsschutzgesetz, so Kessler. Denn dadurch könnte die Pandemie schneller beendet und zahllose Menschenleben gerettet werden.

„Impfangebot“ für alle erst im Sommer

In Trippelschritten geht es nun erst einmal voran. In den letzten Tagen des Jahres sollen deutschlandweit 1,3 Millionen Dosen von Biontech ausgeliefert werden. Für den Zeitraum bis Ende März kündigte Spahn jüngst elf bis zwölf Millionen Dosen an. Da der Impfstoff zweimal gespritzt werden muss, würde diese Menge für bis zu sechs Millionen Menschen reichen.

Der Bundesgesundheitsminister geht davon aus, bis zum Sommer allen Bürgern in Deutschland ein „Impfangebot“ machen zu können – sofern weitere Präparate eine Zulassung erhalten. Damit ist aber auch klar: Die Pandemie ist noch lange nicht ausgestanden.