Allergische Reaktion stellt Forscher vor Rätsel – doch sie raten trotzdem zur Impfung

28. Dezember 2020 Aus Von mvp-web
Mindestens acht Menschen in den USA und Großbritannien zeigten nach ihrer Corona-Impfung eine schwere allergische Reaktion. Forscher verfolgen verschiedene Theorien dazu, was sie ausgelöst haben könnte – und raten dennoch auch Allergikern, sich unbedingt impfen zu lassen.

Der Corona-Impfstoff der Firmen Biontech und Pfizer „Comirnaty“ (BNT162b2) kann in seltenen Fällen heftige allergische Reaktionen auslösen. In den vergangenen zwei Wochen seien in Großbritannien und den USA, wo die Impfungen bereits begannen, mindestens acht solcher Fälle aufgetreten, berichtet das Wissenschaftsjournal „Science“. Dies könne bei Allergikern zur Verunsicherung führten – „auch in Deutschland, wo 24 Millionen Allergiepatienten leben“, schreibt dazu die „Pharmazeutische Zeitung“.

Inzwischen scheint klar, was diese teilweise gefährlichen  Nebenwirkungen verursacht. „Wir vermuten, dass mit Polyethylenglykol (kurz PEG) ein Zusatzstoff der Impfung die allergischen Reaktionen bei den Patienten ausgelöst hat“, erklärt Ludger Klimek, Leiter des Allergiezentrums in Wiesbaden, in einer gemeinsamen Stellungnahme der Deutschen Allergie-Gesellschaften zu den Risiken für Allergiker durch die Impfung. „BNT162b2 enthält grundsätzlich weniger Allergie-auslösende Substanzen als andere, herkömmliche Impfstofftypen. Dennoch kann jede Impfung allergische Reaktionen oder einen allergischen Schock auslösen.“

In der Zulassungsstudie von Biontech/Pfizer seien allergische Reaktionen nur bei 0,63 Prozent der Patienten aufgetreten, die den Impfstoff erhielten, und bei 0,51 Prozent der Patienten in der Placebogruppe. Allerdings waren Patienten mit schweren Allergien von dieser Studie ausgeschlossen. „Die noch fehlenden Daten zur Verträglichkeit bei Anaphylaxie-gefährdeten Patienten müssen nun schnellstmöglich erhoben werden“, so Klimek weiter.

Impfstoff-Stabilisator PEG hat allergisches Potenzial

Eine ähnliche Vakzine des US-Unternehmens Moderna enthält ebenfalls PEG. In den USA ist sie bereits zugelassen, später soll sie auch in Deutschland und Europa verimpft werden. Beide beruhen auf sogenannter Boten-Ribonukleinsäure (mRNA). Dieses Biomolekül ist in Nanopartikeln mit einer Lipidhülle verpackt. Das soll es vor Eintritt in die Zielzelle vor Attacken durch körpereigene Enzyme schützen und die Aufnahme steigern. PEG wiederum bindet sich an die Lipide (Fettstoffe) der Nanokügelchen, um sie zusammen mit anderen Substanzen zu stabilisieren. Zugleich wirkt es als sogenanntes Adjuvans (Wirkverstärker), um die Immunreaktion auf den Impfstoff zu verstärken.

PEG war noch nie in einem zugelassenen Impfstoff enthalten, ist aber Bestandteil vieler Medikamente, die in Einzelfällen bereits schwere allergische Reaktionen ausgelöst haben – bis hin zum lebensbedrohlichen anaphylaktischen Schock, der mit Übelkeit, Kreislaufbeschwerden, Herzrasen, Brechreiz oder Erbrechen, Sehstörungen, akuter Atemnot, Konzentrationsstörungen, aber auch Hautreaktionen einhergeht.

BurdaForward

Studie soll klären, wer durch PEG allergischen Schock erleiden kann

Manche Allergologen glauben, dass einige Menschen, die PEG bereits ausgesetzt waren, Antikörper gebildet haben, die gegen den Stoff gerichtet sind. Dadurch steigt ihr Risiko, durch die Corona-Impfung einen anaphylaktischen Schock zu erleiden. Diese Hypothese ist indes umstritten. Um Klarheit zu schaffen, berief das U.S. National Institute of Allergy and Infectious Diseases (NIAID) laut „Science“ in der vergangenen Woche bereits mehrere Fachkonferenzen unter Beteiligung der Hersteller ein und plant eine Studie, um die Reaktionen von Menschen mit hohem Anti-PEG-Antikörperlevel oder die bereits auf Medikamente allergisch reagiert hatten, zu analysieren.

„Bis wir wissen, dass es eine wahre PEG-Geschichte ist, können wir nicht sagen, der Fall sei abgeschlossen“, warnt der NIAID-Asthmaexperte Alkis Togias. Auch Pfizer betont gegenüber „Science“, man werde die Entwicklung aktiv verfolgen. Es sei zu empfehlen, in den Impfzentren für den Fall anaphylaktischer Reaktionen „adäquate Überwachungs- und Behandlungsmöglichkeiten vorzuhalten“.

PEGs stecken oft auch in Zahnpasta oder Shampoo

PEGs sind auch in Alltagsprodukten wie Zahnpasta und Shampoo enthalten, ebenso in Abführmitteln sowie einer steigenden Zahl biopharmazeutischer Erzeugnisse. Die Stoffe galten lange Zeit als reaktionsträge und damit stabil. Doch neuere Erkenntnisse zeigen, dass das nicht zutrifft. So sind einer Untersuchung von Forschern der University of North Carolina von 2016 zufolge bei bis zu 72 Prozent der Bevölkerung zumindest einige Anti-PEG-Antikörper im Blut vorhanden. Bei sieben Prozent davon ist deren Anzahl hoch genug, um sie für eine anaphylaktische Reaktion zu prädisponieren.

Eine Reihe anderer Forscher meint indes, PEG spiele bei den beobachteten allergischen Reaktionen gar keine Rolle. Zu ihnen zählt der Immunologe Janos Szebeni von der Semmelweis-Universität in Budapest. Denn Antikörper des Typs Immunoglobulin E, die sonst die klassischen Allergiesymptome auslösen, seien an der Reaktion nicht beteiligt, argumentiert er. Stattdessen aktiviere PEG zwei andere Antikörpertypen, nämlich die Immunoglobuline M (IgM) und G (IgG), die einem anderen Zweig des Immunsystems – dem sogenannten Komplementsystem – angehören.

Nicht PEGs, sondern CARPA halten andere Forscher für verantwortlich

Schon früher hate Szebeni eine neue von Medikamenten erzeugte Reaktion skizziert, die er „Complement Activation-Related PseudoAllergy“ (etwa: „Komplement-aktivierungsbezogene Pseudoallergie“, kurz CARPA). Es handle sich um eine unspezifische Reaktion auf Medikamente, die auf Nanopartikeln beruhen. Diese würden vom Immunsystem fälschlicherweise als Viren erkannt. Laut Szebeni kann CARPA die schweren anaphylaktischen Reaktionen erklären, die von PEG-haltigen Medikamenten ausgelöst werden, darunter das häufig verordnete Krebsmedikament Doxorubicin.

Der Nanomedizin-Forscher Moein Moghimi von der britischen Universität Newcastle glaubt ebenfalls nicht an die verhängnisvolle Rolle von PEG. „Es wird bei den Risiken von PEG und CARPA viel übertrieben“, so Moghimi. „Technisch gesehen wird ein Adjuvans an die Injektionsstelle gebracht, um das lokale Immunsystem zu stimulieren. Bei manchen Menschen wird es übererregt, weil sie relativ viele lokale Immunzellen besitzen.“

Wieder andere Experten verweisen darauf, dass die Menge an PEG in den mRNS-Vakzinen im Größenordnungen geringer ist als in den meisten PEG-haltigen Medikamenten. Zudem würden diese meist intravenös gegeben, die Impfstoffe dagegen in einen Muskel injiziert, was die PEG-Aufnahme verzögert und nur eine geringe Menge ins Blut übergeht, wo die meisten Antikörper anzutreffen sind.

Viele Allergiker haben jetzt Angst vor der Impfung

Trotz der unsicheren Datenlage hätten die Medienberichte über allergische Reaktionen Teile der Bevölkerung verunsichert, konstatiert NIAID- Forscher Togias. „In den USA fürchten Menschen mit schweren Allergien nun, dass sie nicht geimpft werden können, jedenfalls nicht mit den mRNS-Vakzinen“, so Togias.

Allergien seien  so häufig, dass dies Widerstand gegen die Impfung auslösen könnte, ergänzt der ungarische Immunologe Szebeni. Er bemerkt zudem, dass die beiden derzeit eingesetzten Impfstoffe in zwei Dosen verabreicht werden. Das könne dazu führen, dass eine von der ersten Dosis ausgelöste Immunantwort das Risiko für eine überschießende Reaktion bei der zweiten Injektion erhöhe.

Was also tun? Sollte sich PEG tatsächlich als der Schuldige erweisen, sei es unmöglich, Millionen Menschen auf Anti-PEG-Antikörper zu testen. Deshalb empfiehlt die US-Gesundheitsbehörde CDC in ihren Richtlinien, die Biontech/Pfizer- und Moderna-Vakzine Personen, die in der Vergangenheit an schweren Allergien litten, nicht zu verabreichen. Menschen mit einem erhöhten Risiko sollten zudem noch 30 Minuten nach der Injektion in den Impfzentren oder Arztpraxen verweilen, um im Bedarfsfall eine Behandlung sicherzustellen.

Auch Vertreter der PEG-Hypothese befürworten eine Impfung, darunter die Allergologin Elizabeth Phillips von der Vanderbilt University. „Wir müssen geimpft werden, wir müssen es erproben, um die Pandemie zurückzudrängen“, fordert Phillips. Darauf drängt auch die Impfstoff-Miterfinderin Katalin Karikó von Biontech. Mit ihrem Kollegen und Landsmann Szebeni diskutierte sie das PEG-Problem. Beide stimmten überein, dass das Risiko angesichts der geringen Lipid- und damit PEG-Menge bei der intramuskulären Impfung vernachlässigbar sei. „Alle Impfstoffe bergen Risiken“, urteilt Karikó. „Aber ihr Nutzen überwiegt bei weitem.“