In interner Sitzung – Merkel warnt vor Corona-Pulverfass: Statistikerin kontert düstere 14-Tage-Prognose der Kanzlerin

27. Januar 2021 Aus Von mvp-web

18:37:30
Angela Merkel dringt auf weitere Verschärfungen der Corona-Maßnahmen. Die Zahlen sind weiter zu hoch, die Mutante aus Großbritannien verschärft die Situation zusätzlich. Aber: Einen rasanten Wiederanstieg der Fälle in den kommenden zwei Wochen hält Statistikerin Katharina Schüller für unwahrscheinlich.

Angela Merkel lag mit ihren Prognosen zum Pandemie-Verlauf bislang meist richtig. Als sie im September etwa täglich bis zu 19.000 Neuinfizierte bis Weihnachten befürchtete, war der Aufschrei groß, die Ungläubigkeit über damals noch utopisch hoch scheinende Zahlen auch. Die Realität übertraf die Berechnungen der Kanzlerin dann allerdings sogar: In der Spitze 33.906 Infektionen meldete das Robert-Koch-Institut (RKI) am 23. Dezember.

Seither hat sich die Kanzlerin stark gemacht für zwar schmerzhafte, aber aus ihrer Sicht weiter notwendige Verschärfungen der Corona-Regeln. Insbesondere die im Vergleich zum Ursprungsvirus deutlich ansteckendere Mutante B.1.1.7 besorgt die Kanzlerin. Einen explosionsartigen Wiederanstieg der Zahlen wie in Großbritannien und Irland müsse Deutschland in jedem Fall verhindern.

Merkel: „Uns ist das Ding entglitten“

In einer internen Schalte mit den Chefs der Unionsfraktionen von Bund und Ländern hat Merkel diese Bestrebungen jetzt angeblich mit eindringlichen Worten untermauert. „Wir müssen noch strenger werden, sonst sind wir in 14 Tagen wieder da, wo wir waren“, zitiert sie die „Bild“. Das sei zwar „furchtbar“, doch sei Deutschland „das Ding entglitten“, man lebe durch die Mutationen „auf einem Pulverfass“.

Bundeskanzlerin Angela Merkel ist besorgt ob der aktuellen Infektionslage

Statistikerin Katharina Schüller zeichnet auf Nachfrage von FOCUS Online ein etwas weniger bedrohliches Bild. „Ich sehe das aktuell nicht ganz so dramatisch“, erklärt die Vorständin der Deutschen Gesellschaft für Statistik. So hätten Gesundheitsämter und RKI über die vergangene Woche gerechnet im Mittel knapp 13.000 neue Infektionen täglich gezählt, der R-Wert liege seit längerem unterhalb von 1. Rechnet man das hoch, „dann bleiben die Zahlen fast konstant, wenn wir einfach so weitermachen – und das über zwei oder drei Monate“, skizziert sie.

Der Grund: Die nicht nur von Kanzlerin Merkel gefürchtete britische Mutante B.1.1.7 ist dem Expertentenor nach bislang nur sehr begrenzt in Deutschland verbreitet. Katharina Schüller geht von etwa 0,1 Prozent Anteil an der Gesamtzahl der Infektionen aus. Jeder tausendste Infizierte trägt demnach die mutierte Form des Ursprungserregers in sich.

Wieder so viele Fälle wie vor dem harten Lockdown?

Valide Daten über ihre Verbreitung liegen zwar weiter nicht vor; zu wenig haben deutsche Labore die Geninformationen der kursierenden Virenvarianten bisher untersucht. Dass B.1.1.7 derzeit schon mehr Menschen infiziert und krank macht, bezweifelt die Datenspezialistin aber. „Dann müsste der R-Wert stärker steigen.“ Und selbst wenn die Mutante bereits fünf Prozent aller Fälle ausmachen würde, berechnet die Statistikerin für in 14 Tagen „nur“ etwas über 13.300 neue Fälle pro Tag. Zahlen jenseits der 25.000 von vor dem Januar-Lockdown sind davon doch ein gutes Stück entfernt.

„Nur“ ist dabei allerdings sehr relativ zu bewerten. Die Fallzahlen sind nach wie vor hoch, Einschränkungen und das Reduzieren von Kontakten zweifellos unbedingt notwendig. „Aber die 14 Tage scheinen mir zu pessimistisch, sofern Frau Merkel nicht zusätzlich mit einrechnet, dass sich die Leute mit längerem Lockdown immer weniger an die Regeln halten.“

FOCUS-Online-Serie: „Die Corona-Erklärer“

Die Corona-Pandemie bestimmt auch zehn Monate nach den ersten Fällen in Deutschland weiter das Geschehen auf der Welt. Bei FOCUS Online beantworten Infektiologe und Privatdozent Christoph Spinner, der Professor für Virologie Friedemann Weber und die Vorständin der Deutschen Gesellschaft für Statistik Katharina Schüller gemeinsam mit Gesundheitsredakteurin Kristina Kreisel die wichtigsten Fragen – tagesaktuell, verständlich und wissenschaftlich fundiert.

Mutante soll sich in Deutschland möglichst nicht ausbreiten

Eine Eindämmung sowohl der zuerst in Großbritannien nachgewiesenen Virusvariante als auch weiterer mutierter Stämme aus Südafrika und Brasilien halten Experten indes für entscheidend für den Fortgang der Pandemie. Ob es dafür einer weiteren Verschärfung der Maßnahmen bedarf, wird derzeit von Politik und Wissenschaft diskutiert. Die momentan geltenden Lockdown-Regeln würden zwar auch gegen B.1.1.7 helfen, erklärt Virologe Friedemann Weber im Gespräch mit FOCUS Online. „Bei einer klar dokumentierten Ausbreitung in Deutschland müsste man die Maßnahmen aber tatsächlich verschärfen, denn die Situation kann schnell außer Kontrolle geraten.“

Virologe Christian Drosten von der Berliner Charité hat sich ähnlich wie die Kanzlerin für eine Verschärfung der Maßnahmen ausgesprochen. „Wir müssen jetzt was machen, wenn wir speziell das Aufkeimen der Mutante in Deutschland noch beeinflussen wollen“, erklärt er bei „NDR Info“. „Später kann man das nicht mehr gut machen, dann ist es zu spät.“ Sehr harte Maßnahmen inklusive Ausgangssperren hätten in Großbritannien bereits Wirkung gezeigt.

Wie ansteckend ist B.1.1.7?

Auf Basis der inzwischen vorliegenden Daten sei laut Drosten davon auszugehen, dass B.1.1.7 tatsächlich ansteckender ist als bisher bekannte Formen. „Wir haben den Befund auf dem Tisch. Wir haben es mit einer Mutante zu tun, die sich schneller verbreitet.“ Das quantitative Ausmaß dessen müsse man allerdings noch einmal diskutieren. Das mutierte Virus ist demzufolge vermutlich um einen kleineren Prozentsatz ansteckender als zunächst angenommen; anfangs war von 50 bis 70 Prozent im Vergleich zu früheren Formen die Rede gewesen. Tatsächlich könnte die Mutante eher 35 Prozent ansteckender sein.