Lockdown-Verschärfung droht, da wir zu viele Kontakte haben – ohne es zu merken

9. Februar 2021 Aus Von mvp-web
16:43:35
Ein Ende des strikten Lockdowns scheint vor dem neuerlichen Bund-Länder-Gipfel jedoch weiter keine Option. Und dabei wirkt es so, als würde die Tendenz stimmen: Die Zahl der Corona-Hotspots in Deutschland nimmt ab. Die Infektionszahlen sind stark gesunken. Auch die Intensivstationen melden wieder mehr freie Betten. Was von einer Öffnung abhält, was Bund und Länder stattdessen planen.

4535 neue Corona-Fälle meldet das Robert-Koch-Institut am Montag, die Inzidenz liegt auf die vergangenen sieben Tage gerechnet deutschlandweit bei 76 pro 100.000 Einwohner. Die Auslastung der Intensivbetten in deutschen Kliniken hat sich nach Rekordwerten Anfang Januar deutlich beruhigt.

Seit Anfang Januar ist die Zahl der Covid-Kranken auf deutschen Intensivstationen kontinuierlich gesunken (Stand: 07.02.21)

DIVI Seit Anfang Januar ist die Zahl der Covid-Kranken auf deutschen Intensivstationen kontinuierlich gesunken (Stand: 07.02.21)

Und dennoch werden die Hoffnungen auf ein Ende des quälenden Corona-Lockdowns am Mittwoch erneut enttäuscht werden. Internen Informationen zufolge sind die politischen Entscheidungsträger aus Berlin und den Bundesländern auf Linie, die Aussagen aus der vergangenen Woche eindeutig: Der Lockdown in Deutschland wird bis Ende Februar verlängert werden.

Wie die „Bild“-Zeitung berichtet, will Bundeskanzlerin Angela Merkel auch für Schulen und Kitas keine sofortigen Lockerungen. Stattdessen soll für sie eine längerfristige Öffnungsstrategie auf den Weg gebracht werden.

Bericht: Schrittweise Lockerungen ab März

Erste stufenweise Lockerungen für das öffentliche Leben insgesamt könnte es ab dem 1. März geben. Dabei wollen sich Bund und Länder nach Informationen des Wirtschaftsmagazins „Business Insider“ offenbar an den Inzidenzwerten 35, 20 und 10 orientieren. Hinzukommen sollen noch weitere Indikatoren des Infektionsgeschehens. Welche das genau sein sollen, werde derzeit noch beraten. Die Schwierigkeit liege dem Vernehmen nach darin, geeignete Indikatoren zu finden, die die Gefahr durch Mutationen angemessen abbilden und trotzdem einfach verständlich sind.

Eine detaillierte Liste mit Angeboten und Einrichtungen würden Bund und Länder auf dem Corona-Gipfel am Mittwoch wohl nicht verabschieden. Stattdessen soll es ein grobes Raster geben, innerhalb dessen die Länder individuellen Spielraum bekommen sollen. So sei dem Bericht nach im Gespräch, Restaurants bei einem lokalen Unterschreiten der Inzidenz von 35 zu öffnen – möglicherweise unter Berücksichtigung weiterer Faktoren.

Lockdown in Deutschland: Merkel lobt „gute Leistung“ der Bevölkerung

Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte in einem ihrer auch nach 16 Jahren Kanzlerschaft seltenen TV-Interviews die Bürgerinnen und Bürger zuletzt für ihre Mithilfe bei der Eindämmung der Pandemie gelobt. Die jetzt erreichte Inzidenz sei „eine gute Leistung“, unterhalb der Marke von 100 „da waren wir lange nicht“, führte sie aus.

Doch die Kontrolle über das Virus hätten die Gesundheitsämter damit noch nicht wieder zurück – weswegen die Kanzlerin live in der ARD vor einem Millionenpublikum erneut darum bat, „noch eine Weile durchzuhalten“. Wie lang diese Weile noch andauern soll, dazu sagte Merkel nichts. Dass sie am Mittwoch schon vorbei sein könnte, ist allerdings unwahrscheinlich.

Die Zurückhaltung bezüglich einer zumindest sukzessiven Lockerung des seit November immer enger gezurrten Corona-Regelkorsetts ist dabei zu großen Teilen dem Aufkommen neuer Virusmutationen geschuldet. Sie sind ansteckender als das Ursprungsvirus, entsprechend viele Übertragungen werden bei möglichen Lockerungen befürchtet.

RKI-Kreise: Kontaktbeschränkungen werden zu lasch umgesetzt

Was Deutschland konkret drohen könnte, wenn jetzt bei aller verständlichen Corona-Müdigkeit vorschnell gelockert werden würde, darüber kursieren bedrohlich klingende Prognosen. In RKI-Kreisen ist etwa von einem neuerlichen Hochschießen der Fallzahlen die Rede und einem erneuten Corona-Notfall wie vor Weihnachten bis spätestens Ende März, wie FOCUS Online aus internen Kreisen erfuhr.

Statt Lockerungen fordern dort manche deshalb gar weitere Verschärfungen der Regeln, zu lasch würden die Kontaktbeschränkungen aktuell von vielen umgesetzt. Viele fühlten sich zudem zu sicher, trügen im Privaten weder Masken noch würde auf ausreichend Abstand geachtet beim Besuch von Freunden und Familie.

Wir haben zu viele Kontakte – ohne es zu merken

Auch die zahllosen Ausflügler, die sich vor allem an den Wochenenden vielerorts begegneten, sieht man beim RKI offenbar kritisch. Der Einzelne mag die Kontakte dort für vernachlässigbar halten. Insgesamt komme es aber auch hier weiterhin zu oft zu vermeidbaren und oft unbewussten Kontakten und damit Übertragungen; vor allem deshalb, weil potenziell infektiöse Personen einen Großteil ihrer Viren bereits vor Symptombeginn ausstoßen. Diese Übertragung des Virus ohne Symptome sei ohnehin eines der Hauptprobleme der Pandemie, heißt es aus RKI-Kreisen weiter. Verschärfungen im Sinne der Eindämmung des Tagestourismus könnten am Mittwoch die Folge sein.

Entsprechend eindringlich warnte RKI-Chef Lothar Wieler in der letzten offiziellen Pressekonferenz vor dem Bund-Länder-Gipfel am Freitag vor voreiligen Lockerungen und einem angesichts gesunkener Fallzahlen zu lapidaren Umgang mit dem Virus. Die für die erneute Zahlenexplosion vor allem in Großbritannien und Irland verantwortlich gemachte Virusvariante B.1.1.7 sowie die südafrikanische und die brasilianische Mutante seien in Deutschland bisher nur wenig verbreitet.

RKI-Chef über Mutationen: „Situation ist noch lange nicht unter Kontrolle“

Doch ihr Anteil dürfe sich nicht weiter erhöhen, mahnte Wieler. Das Virus sei durch die Mutationen noch einmal gefährlicher geworden. Seine Verbreitung müsse auch nach zwei Monaten harten Lockdowns weiter eingedämmt werden. „Die Situation ist noch lange nicht unter Kontrolle.“

Ähnlich eindeutig äußerte sich am Sonntag Bayerns Ministerpräsident Markus Söder im „Bericht aus Berlin“ in der ARD: „Ich glaube, grundsätzlich wird der Lockdown erstmal verlängert werden müssen.“ Es habe keinen Sinn, jetzt alles abzubrechen und auf einen Schlag zu öffnen. In zwei, drei Wochen sei sonst „alles schlimmer als vorher“.

Lockdown verschärfen? Portugal als abschreckendes Beispiel

Darauf verwies auch Bundesgesundheitsminister Jens Spahn zuletzt. Macht Deutschland zu früh zu weit wieder auf, drohten auch hierzulande katastrophale Zustände, wie sie gerade Portugal meldet. Das Land am Atlantik hat seit Anfang des Jahres mit einer massiven dritten Corona-Welle zu kämpfen. Seit Ende Januar sind die Grenzen abgeriegelt. Rein und raus kommen Reisende nur noch mit triftigem Grund. Zur Unterstützung der örtlichen Kliniken hat die deutsche Bundeswehr Ärzte und Pflegekräfte geschickt.

Wissenschaftler sprechen sich für Verlängerung des Lockdowns aus

Die Wissenschaft plädiert indes mindestens so vehement für die Weiterführung der harten Lockdown-Maßnahmen wie die Spitzenpolitik. „Für die Zeit bis Ostern können wir noch nicht viel an Bevölkerungsschutz durch die Impfung erwarten“, prognostizierte Charité-Virologe Christian Drosten jüngst im NDR-Podcast. Zu frühen Lockerungen der Corona-Regeln steht er skeptisch gegenüber.

Noch radikaler gegen baldige Öffnungen hat sich eine Expertengruppe um die Helmholtz-Virologin Melanie Brinkmann positioniert. Statt eines Wiederhochfahrens von öffentlichem Leben, Handel, Schulen und Kitas, sobald die bisher als relevante Zielmarke ausgegebene Inzidenz von 50 pro 100.000 Einwohner in Deutschland erreicht ist, plädieren sie für ein Drücken der Infektionsfälle möglichst bis auf 0. Für diese „No Covid“-Strategie aus ihrer Sicht elementar: weiter harte Lockdown-Maßnahmen, wenigstens noch für einige Wochen.

Virologin Brinkmann: „Wir müssen auch besser kontrollieren, dass sich alle daran halten“

Melanie Brinkmann erklärte dazu dem „Spiegel“: „Es wäre fatal zu hoffen, wir könnten die Maßnahmen mit einer Inzidenz von knapp unter 50 lockern und dabei das Virus im Zaum halten.“ Die Zahlen würden dann sofort wieder steigen und Deutschland letztlich in eine Art Dauer-Lockdown zwingen, aus dem man nur zwischendurch mal kurz auftauchen und nach Luft schnappen könne. „Und das ginge dann bis ins Jahr 2022 hinein“, so Brinkmann. Das „Larifari des ‚Hier ein bisschen Homeoffice, dort ein improvisiertes Hygienekonzept“ müsse dafür zwingend aufhören, mahnte die Professorin für Virologie.

Insgesamt gehe es in der aktuellen Situation aus ihrer Sicht weniger darum, immer härtere Maßnahmen einzuführen, als die bestehenden konsequenter anzuwenden. „Wir müssen auch besser kontrollieren, dass sich alle daran halten. Quarantäne ist Quarantäne – da kann ich nicht draußen herumspringen.“

Um die Pandemie künftig wieder gut kontrollieren zu können, müssten kurzfristig auch die Schulen weiter geschlossen bleiben, so Brinkmann. „Sonst kriegen wir sie wegen der ansteckenderen Varianten sehr, sehr lange nicht mehr richtig geöffnet.“ Auch das Schließen von Grenzen sei aus ihrer Sicht notwendig. Dass Urlaubsreisen ins Ausland bei weiter hohen Inzidenzen nach wie vor erlaubt seien, mache sie fassungslos, erklärte Brinkmann weiter.