„Das kann die Entwicklung um sechs Monate verkürzen“

2. Juni 2020 Aus Von mvp-web
BioNTech-Chef Ugur Sahin hofft auf einen beschleunigten Zulassungsprozess für sein Präparat und erwartet, dass auch der Staat in das Projekt investiert.

Ende Januar, als viele das neue Virus in China noch unterschätzten, machte Ugur Sahin den pandemischen Impfstoff zum Ziel seines Unternehmens. Am 23. April erhielt der erste Proband eine Testdosis. 2008 gründete er mit seinen Forscherkollegen Özlem Türeci (mit der Sahin verheiratet ist) und Christoph Huber die BioNTech und entwickelte die Methode, dem Körper eine Bauanleitung für das Immunsystem zu verabreichen. Bislang wurde sie eher gegen Krebs eingesetzt, aber sie ist vielseitig nutzbar.

Ihr Impfstoff, der in Europa und in den USA an Freiwilligen erprobt wird, ist fundamental neu. Was zeichnet ihn aus?

Die zugrunde liegende Technik der Boten-RNA hat mehrere Vorteile. Einer ist die Geschwindigkeit, mit der sich ein Impfstoff gegen einen neuen Erreger entwickeln und herstellen lässt. Wir konnten daher signifikant früher eine klinische Studie starten. Unser Ziel ist nicht nur die Entwicklung und Zulassung eines gut verträglichen und wirksamen Impfstoffs, sondern ihn auch für den globalen Bedarf ausreichend bereitzustellen. Auch das geht mit dieser Technologie besser.

Welche Menge peilen Sie an?

Wir möchten mit unseren Partnern die Produktionskapazität so weit steigern, dass wir Hunderte Millionen Dosen ab 2021 produzieren können. Schlussendlich hängt dies davon ab, welche Dosierung wir benötigen, um einen ausreichenden Impfschutz im Menschen auszulösen. Das klärt sich in den kommenden zwei Monaten.

Wie lange wird die Herstellung einer Charge dauern?

In groben Schritten: Die mRNA – die Bauanleitung für das Virusprotein, das im Körper die Immunantwort auslöst – wird in etwa 48 Stunden produziert. Dann wird die mRNA in nanometerkleine Fettkügelchen verpackt. Das dauert noch einmal einige Tage. Insgesamt nimmt die Herstellung bis zu neun Tage in Anspruch. Anschließend bedarf es ungefähr noch drei Wochen bis zur Freigabe der Charge. In dieser Zeit werden vielfältige Qualitätskontrollen durchgeführt.

Über welche Produktionsstätten verfügen Sie?

Wir bauen noch an zwei Standorten Kapazität auf. Zum Glück haben wir in Idar-Oberstein vor drei Jahren mit dem Bau einer neuen Produktionsstätte für Biopharmazeutika begonnen. Die dortigen Reinräume sind bezugsfertig und können zum Teil für die Produktion von mRNA genutzt werden. Wir investieren in neue Geräte und vor allem in teures Rohmaterial, hauptsächlich RNA-Bausteine, Enzyme und Reagenzien in großen Mengen. In einigen Monaten werden wir planmäßig eine Ausbaustufe haben, die uns ermöglicht, viele Millionen Dosen Impf-RNA über Idar-Oberstein und unser Hauptquartier in Mainz herzustellen.

Finanzieren das Ihre Partner Pfizer aus den USA und Fosun aus China?

Diese Allianzen haben uns zweifelsohne geholfen, Finanzmittel hereinzuholen. Sie müssen berücksichtigen, dass bei großen klinischen Studien, wie wir sie planen, Kosten von Hunderten Millionen Euro zusammenkommen. Jeder Proband, den wir impfen, muss mehrere Male über Monate hinweg immer wieder einbestellt und vom Klinikpersonal untersucht werden. Alle Analysen von Blutproben finden unter hohen Qualitätsbedingungen statt. Im Durchschnitt kostet die Entwicklung eines neuen Impfstoffs 1,2 bis 1,5 Milliarden Euro. Wir brauchen weitere Finanzmittel. Als Unternehmen kann man Mittel auf dem Kapitalmarkt generieren oder zusätzliche Partner gewinnen. Genauso vertrauen wir darauf, dass wir staatliche beziehungsweise europäische Unterstützung erhalten.

Wird Pfizer für den amerikanischen Markt und Fosun für den chinesischen produzieren?

Das steht noch nicht fest.

In welchem Stadium ist die klinische Studie in Europa, mit der Sie Ende April begonnen haben?

Wir rekrutieren Freiwillige und bestimmen zunächst die Verträglichkeit unterschiedlicher Dosierungen des Impfstoffs. Nach Bestimmung einer gut verträglichen Dosis überprüfen wir, ob eine ausreichende Impfstoffaktivität vorliegt. Ende Juni bis Anfang Juli dieses Jahres sind erste Resultate zu erwarten.

Diese Dosisfindungsphase klingt riskant.

Das sind etablierte Regularien eines Phase-I-Impfstoffversuchs, bei dem es in erster Linie um Verträglichkeit geht. Es gibt Sicherheitsnetze. Wird Probanden eine um eine Stufe höhere Dosis verabreicht, werden sie 24 bis 48 Stunden lang medizinisch überwacht. Nach ausreichender Beobachtungszeit wird entschieden, ob die Dosierung für die nachfolgenden Probanden beibehalten, erhöht oder vielleicht auch reduziert wird.

Wie groß ist bei Ihrem Impfstofftyp die Gefahr, dass es zu einer überschießenden Immunreaktion kommt?

Die ist so groß wie bei den vielen anderen Impfstoffarten auch. Das Ziel einer Impfung ist es, das Immunsystem gezielt und ausreichend stark zu stimulieren. Die Dosierung wird so ermittelt, dass es keine überschießende Immunreaktion gibt. Der wichtigste Satz in der Medizin lautet: Es gibt keine Wirkung ohne Nebenwirkung. Impfstoffe gehören jedoch zu den Substanzklassen, für die regulatorisch hohe Verträglichkeitsanforderungen bestehen.

Welche Erfahrung machen Sie mit den Zulassungsbehörden?

Die Behörden haben ihre Prozesse erheblich beschleunigt. Es ist wie bei einer bevorzugten Sicherheitskontrolle am Flughafen – wir dürfen an der Warteschlange vorbei, werden aber genauso gründlich kontrolliert wie alle. Der Dialog mit den Behörden ist zudem sehr wichtig, um die klinische Strategie für eine Marktzulassung zu erarbeiten.

Wann rechnen Sie frühestens damit?

Darauf kann ich noch keine konkrete Antwort geben.

Am häufigsten wird die voraussichtliche Dauer bis zur Marktreife des ersten Impfstoffs gegen Sars-CoV-2 auf mindestens 18 Monate geschätzt.

Das ist vielleicht ein aus historischen Erfahrungen abgeleiteter Wert und sollte nicht als Maß für die aktuelle Pandemiesituation dienen. Es sind ja mehrere Impfstoff-Kandidaten unterschiedlicher Gruppierungen bereits in der klinischen Testung. Es gibt etablierte Prozesse für eine beschleunigte Produktzulassung in den USA beziehungsweise eine schnellere konditionale Zulassung in Europa, die unter Umständen auch für Covid-19-Impfstoffe genutzt werden könnte. Solche Prozesse sind üblicherweise an die Bedingung geknüpft, dass weitere Studien durchgeführt und die neuen Daten den Behörden erneut vorgelegt werden, um eine vollwertige Zulassung zu beantragen. Das könnte die Impfstoffentwicklung um bis zu sechs Monate verkürzen.

Wie beurteilen Sie als Mediziner die Restriktionen, denen wir unterworfen waren und sind?

Ich bin positiv überrascht. Als ich Mitte Januar die ersten wissenschaftlichen Artikel über das Geschehen in China las, dachte ich, dass es in einem föderalistischen System schwierig sein könnte, derartig effizient und angemessen zu reagieren. Die Politik und die Menschen haben ihre Sache bis jetzt außerordentlich gut gemacht. Jetzt ist es an uns und anderen Forschern und Unternehmen, einen Impfstoff herauszubringen.

Focus Online: Samstag, 30.05.2020, 19:45