Corona-Impfstoff: Mit dem Impfstoff zu alter Größe

22. Juni 2020 Aus Von mvp-web

Russland will im Herbst die Produktion eines Covid-19-Impfstoffs beginnen, der bereits an Menschen getestet wird. Experten zweifeln und kritisieren den politischen Druck.

Ein schmuckloses, verfliestes Krankenzimmer. Auf einer Krankenpritsche sitzt ein Mann, Mund-Nasen-Schutz angelegt, sein T-Shirt ist am linken Oberarm bis zur Schulter hochgekrempelt. Zum Zeichen, dass er bereit sei, nickt er kurz. Eine Ärztin in weißer Schutzausrüstung tritt heran, tupft seinen Oberarm mit einem Wattebausch ab, setzt die Spritze an und injiziert die Flüssigkeit in seinen Körper.

Es ist ein Ablauf, den wir von jeder Impfung kennen. Doch die Bilder, die diese Woche in russischen Staatsmedien ausgestrahlt wurden, zeigen die ersten Tests eines Covid-19-Impfstoffs am Menschen, die sogenannte klinische Phase. In einem Moskauer Militärspital wurden am Donnerstag und Freitag die ersten Probanden, die meisten von ihnen Soldaten, gegen Covid-19 geimpft. Insgesamt soll der Impfstoff an zwei Gruppen zu je 38 Freiwilligen getestet werden, so das Gesundheitsministerium. “Klinische Tests mitten in einer Pandemie sind eine außergewöhnliche Situation”, heißt es auf der Homepage. “Es wurden beispiellose Maßnahmen ergriffen, so haben etwa alle Teilnehmer zwei Wochen in Quarantäne verbracht.”

Auf der ganzen Welt wird nach einem Impfstoff gegen Covid-19 geforscht, doch Russland prescht bei der Entwicklung besonders vor. Nach den Tests an den Freiwilligen sei bereits die Zulassung im August geplant, sagte die Vizeregierungschefin Tatjana Golikowa der staatlichen Nachrichtenagentur Tass. Bereits im Herbst könne mit der Massenproduktion des Impfstoffes gegen das Coronavirus Sars-CoV-2 begonnen werden – und somit früher als in allen anderen Ländern. Die Corona-Krise hat Russland hart getroffen, weltweit steht es mit derzeit offiziell 568.000 Covid-19-Fällen an dritter Stelle hinter den USA und Brasilien.

Schon die Corona-Tests liefen nicht ohne Pannen

In der WHO-Liste der vielversprechenden Impfstoffprojekte gegen Covid-19 sind gleich mehrere russische Forschungsinstitute vertreten. Russischen Medienberichten zufolge wird derzeit an sieben Einrichtungen im Land an einer Covid-19-Impfung geforscht. Dabei stechen vor allem zwei Stellen hervor: das Vektor-Institut in Kolzowo bei Nowosibirsk und das Gamalaja-Institut für Epidemiologie und Mikrobiologie in Moskau. Doch gerade in Nowosibirsk lief die Corona-Bekämpfung nicht ohne Pannen ab: Zu Beginn der Pandemie konnte sich das Vektor-Institut die exklusiven Laborrechte für die Entwicklung von Corona-Tests sichern. Doch diese Testes waren so fehlerhaft, dass die russische Regierung auch auf andere Labore ausweichen musste.

Derzeit gibt in Russland aber punkto Covid-19-Impfung ohnehin die Konkurrenz, das staatliche Gamalaja-Institut in Moskau das Tempo vor. Bereits im Mai verkündete der Direktor Alexander Ginzburg, einen Impfstoff entwickelt zu haben, der wirke, und stellte eine Produktion ab Herbst in Aussicht – wobei er vorausschickte, dass die Kapazitäten nicht reichen würden, um sofort alle Bürger zu impfen. Ebendieser Impfstoff wird gerade an den ersten Menschen getestet.

Impfstoffe werden, grob gesagt, in drei Phasen bis zur Zulassung hergestellt: Während in der Screening-Phase im Labor geforscht wird, wird bei der präklinischen Phase an Tieren und erst bei der klinischen Entwicklung an Menschen getestet. Bereits andere Länder haben mit klinischen Tests begonnen, wie etwa China. Der Ablauf und die Zulassung von Medikamenten- oder Impfstoffentwicklungen ist in allen Ländern ähnlich – zumindest theoretisch: Ethische Grundlagen zur medizinischen Forschung am Menschen sieht etwa die Deklaration von Helsinki vor.

Aufsehen erregte Ginzburgs Aussage, dass er den Impfstoff bereits vorab an sich selbst und an Kollegen getestet habe. “Das war kein Test, sondern nur eine Maßnahme zum Selbstschutz, damit wir weiterarbeiten können”, wird Ginzburg von der russischen Nachrichtenagentur Ria Novosti zitiert. “Jeder Kollege, den wir (durch eine Ansteckung, Anm. d. Red.) verlieren, wirft uns zeitlich zurück. So haben sie diesen Schritt bewusst gesetzt, inklusive mir”, so Ginzburg. Ein Schritt, der bei Experten Kritik hervorrief, Putin-Sprecher Dmitrij Peskow indes in Lobeshymnen ausbrechen ließ. “Diese Menschen sind Fanatiker im besten Sinne des Wortes”, sagte Peskow gegenüber der Zeitung Kommersant.

Ein Beispiel, das zeige, wie groß der politische Druck sei um im globalen Wettlauf um den Covid-19-Impfstoff, dem neuen “Space Race” in der globalen Pandemie, zu bestehen, glaubt die Politologin Judy Twigg, die an der Virginia Commonwealth University zu den Gesundheitssystemen in Eurasien forscht. Umso mehr, als Präsident Wladimir Putins bisherige Amtsperioden zuletzt ganz unter der Prämisse standen, Russland wieder in die erste Reihe der globalen Supermächte führen zu wollen. “Das erste Land der Welt zu sein, das einen Impfstoff entwickelt, wäre ein großer Erfolg für Russland – und vor allem für Putin”, sagt Twigg im Gespräch mit ZEIT ONLINE. Putin war es auch, der zuletzt davon sprach, dass er “sehr stark” damit rechne, ein russischer Impfstoff werde noch im September dieses Jahres zugelassen.

Also alles mehr Schein als Sein? Es seien ohne Frage “großartige und fähige Wissenschaftler sowohl bei Vektor als auch beim Gamalaja-Institut am Werk”, sagt Twigg. Zudem werde, wie in anderen Ländern auch, derzeit viel Geld in die Covid-19-Forschung und die Entwicklung eines Impfstoffes gepumpt. “Aber es ist klar, dass russische Labore ein großes Risiko eingehen, um im internationalen Vergleich so früh dran zu sein”, sagt Twigg. “Wir müssen leider davon ausgehen, dass jede Impfung, die noch in diesen Jahr oder zu Beginn des nächsten Jahres in Russland registriert wird, wohl große Mängel an Sicherheit und Effizienz aufweisen wird”, glaubt sie.

“Machen trotzdem bei diesem verrückten Wettlauf mit”

Es sind Zweifel, die auch von russischen Kollegen geteilt werden. “Allein das Testverfahren von weniger als sechs Monaten macht mir großer Sorgen”, sagt der russische Epidemiologe Wassilij Wlasow im Gespräch mit ZEIT ONLINE. “Je mehr Testverfahren vereinfacht und abgekürzt werden, desto wahrscheinlicher ist es, dass mögliche Risiken und Gefahren übersehen werden.” Noch weiter geht die russische Vereinigung der klinischen Forschungsorganisation (ACTO), die sich in einem Brief an das Gesundheitsministerium gewandt hat: “Es werden vollkommen unrealistische Vorgaben gemacht”, heißt es im Dokument, auf das sich die BBC in einem Bericht bezieht. “Viele Wissenschaftler sind sich dessen bewusst, aber machen trotzdem bei diesem verrückten Wettlauf mit, und hoffen damit, der Staatsmacht gefällig zu sein.” Weder das Gamalaja-Institut noch das Gesundheitsministerium war auf Anfrage zu einer Stellungnahme bereit.

Russland blickt derweil auf eine Tradition im Umgang mit Infektionskrankheiten zurück, etwa bei Tuberkulose. Zudem ist das Vektor-Labor in Nowosibirsk neben dem Center for Disease Control and Prevention in Atlanta im US-Bundesstaat Georgia der einzige Ort weltweit, an dem Virusproben der inzwischen ausgerotteten Pocken gelagert werden. Auch der Mikrobiologe Witalij Swerew war noch zu Sowjetzeiten führend an der Entwicklung von Impfstoffen beteiligt, unter anderem forschte er zu HIV, Hepatitis und Rotaviren. Doch mit dem Zerfall der Sowjetunion sind auch viele Kapazitäten und Netzwerke im Gesundheitsbereich weggefallen, sagt Swerew.

Gut möglich, dass die Eile damit zusammenhängt, dass es nicht nur die alte geopolitische, sondern auch die alte gesundheitspolitische Größe aus den Sowjetzeiten ist, zu der Wladimir Putin sein Land in der Corona-Krise führen will – um jeden Preis. “Mit dem Corona-Impfstoff sind wir in einen Wettbewerb geraten, und das gefällt mir nicht”, sagt Swerew im Gespräch mit ZEIT ONLINE. Mit einem verlässlichen Impfstoff sei auch in Russland “nicht vor Ende 2021” zu rechnen, glaubt er.

msn Nachrichten: 21.06.2020