Kaum Krankheitsfälle, viele InfektionenInzidenz bei Kindern teils über 500: Warum sie plötzlich Haupttreiber der Pandemie sind

Kaum Krankheitsfälle, viele InfektionenInzidenz bei Kindern teils über 500: Warum sie plötzlich Haupttreiber der Pandemie sind

21. April 2021 Aus Von mvp-web

Waren sie zwischenzeitlich nach Expertenmeinung kaum relevant für das Infektionsgeschehen, tragen Kinder und Jugendliche heute dazu bei. Ähnliches gilt für die Generation ihrer Eltern. Wo die neuen Hotspots liegen – und was Tests und die Briten-Mutation damit zu tun haben.

„Kinder und Jugendliche werden zum Zentrum der Pandemie“, schreibt Epidemiologe und Gesundheits-Politiker Karl Lauterbach am Dienstag auf Twitter. Mancher mag nach einem Jahr Corona genervt sein von solchen Prognosen. Nicht nur, weil es immer schwerer fällt, sich konsequent an die Schutzmaßnahmen gegen das Virus zu halten, sondern vor allem, weil es dem widerspricht, was Forscher und Forscherinnen während der ersten und zweiten Corona-Welle noch postuliert hatten.

RKI: „Besonders deutlicher Inzidenzzuwachs bei Kindern und Jugendlichen“

Während Kinder und Jugendliche im vergangenen Frühsommer noch als wahrscheinliche „Bremsklötze“ von Infektionsketten bezeichnet worden waren, steigen die Inzidenzen in ihrer Altersgruppe seit einigen Wochen massiv. Steigende Zahlen beobachtet das Robert-Koch-Institut (RKI) generell zwar in allen Altersgruppen. „Besonders deutlich war der Inzidenzzuwachs bei Kindern und Jugendlichen zwischen 0 und 14 Jahren“, schreibt die Behörde aber in ihrem täglichen Lagebericht.

Covid-19-bedingte Ausbrüche beträfen demnach neben privaten Haushalten „zunehmend auch Kitas, Schulen und das berufliche Umfeld“, während die Anzahl der Ausbrüche in Alters- und Pflegeheimen abgenommen hätte.

In konkreten Zahlen ausgedrückt, bedeutet das: Deutschlandweit liegt die Gesamtinzidenz bei 162, bei den 5- bis 9-Jährigen liegt sie bei 184, bei den 10- bis 14-Jährigen bei 204 und bei den 15- bis 19-Jährigen sogar bei 270 (Stand 20.04.21).

Am geringsten ist sie bei den inzwischen zu größten Teilen durchgeimpften 80- bis 84-Jährigen mit 66. Bei den 0- bis 4-Jährigen liegt die 7-Tage-Inzidenz bei 127. Doch auch hier hat sich die Zahl der nachgewiesenen Fälle in den vergangenen sechs Wochen mehr als verdoppelt.

Hier ist die Inzidenz bei den 5- bis 14-Jährigen besonders hoch

Besonders hoch sind die Fallzahlen damit aber also vor allem bei den schulpflichtigen Kinder und Jugendlichen. Die meisten Infektionen in dieser Altersgruppe melden die Landkreise:

  • LK Kronach: Inzidenz bei 632 bei den 5- bis 14-Jährigen (zum Vergleich: Inzidenz in allen Altersgruppen: 259)
  • LK Sonneberg: Inzidenz bei 573 (gesamt: 216)
  • LK Dingolfing-Landau: Inzidenz bei 548 (gesamt: 308)
  • LK Vechta: Inzidenz bei 507 (gesamt: 305)

In allen diesen Landkreisen liegt die Inzidenz bei den 5- bis 14-Jährigen deutlich höher als die Inzidenz auf alle Altersgruppen gerechnet.

Und die vier Kreise sind nur die Spitze des Corona-Eisbergs: Auch in vielen anderen Städten und Landkreisen sind Kinder und Jugendliche im schulpflichtigen Alter inzwischen die am stärksten von Infektionen betroffene Gruppe.

Aufschlüsselung der Inzidenz nach RKI-Daten in den verschiedenen Altersgruppen: Die 5- bis 14-Jährigen sind demnach besonders stark betroffen

semohr.github.io Aufschlüsselung der Inzidenz nach RKI-Daten in den verschiedenen Altersgruppen: Die 5- bis 14-Jährigen sind demnach besonders stark betroffen

In Bayern sind es primär die Jugendlichen zwischen 15 und 19 Jahren, die inzwischen die meisten Infizierten ausmachen. Das erklärte der bayerische Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU) am Dienstag. Die Zahl der Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner in dieser Altersgruppe liege derzeit bei 321,3, bei den 10 bis 14-Jährigen noch immer bei 242. Insgesamt liegt der Durchschnitt in Bayern derzeit bei 185.

Ebenfalls zunehmend von Infektionen betroffen, scheint die Eltern-Generation dieser Kinder und Jugendlichen. Auch bei den 15- bis 34-Jährigen steigen die Zahlen. Hotspots sind hier insbesondere:

  • LK Kronach: Inzidenz bei 575 bei den 15- bis 34-Jährigen (gesamt: 259)
  • LK Sonneberg: Inzidenz bei 573 (gesamt: 216)
  • LK Weimarer Land: Inzidenz bei 528 (gesamt: 251)
  • LK Greiz: Inzidenz bei 521 (gesamt: 369)
Auch bei den 15- bis 34-Jährigen melden viele Landkreise aktuell mehr als 200 Infektionen pro 100.000 Einwohner

semohr.github.io Auch bei den 15- bis 34-Jährigen melden viele Landkreise aktuell mehr als 200 Infektionen pro 100.000 Einwohner

Entsprechend dunkel gefärbt auf einer sich täglich aktualisierenden Inzidenz-Karte, die die Infektionszahlen in den verschiedenen Altersgruppen aufschlüsselt und sich aus Daten des RKI speist, sind momentan viele Landkreise. Während bei den 5- bis 14-Jährigen sowie der Gruppe der 15- bis 34-Jährigen weite Teile Deutschlands rot oder lila gekennzeichnet sind, das für mehr als 100 bzw. mehr als 200 nachgewiesene Infektionen pro 100.000 Einwohner steht, sind es bei den älteren Gruppen inzwischen merklich weniger.

Auch bei der Generation 60+ gibt es weiter viele Infektionen, deutlich weniger allerdings als bei den Jüngeren

semohr.github.io Auch bei der Generation 60+ gibt es weiter viele Infektionen, deutlich weniger allerdings als bei den Jüngeren
Bei den Über-80-Jährigen sind die gemeldeten Fälle dank breiter Impfungen stark zurückgegangen

semohr.github.io Bei den Über-80-Jährigen sind die gemeldeten Fälle dank breiter Impfungen stark zurückgegangen

Infizierte Kinder: Lauterbach warnt vor Krankheitsfällen in Familien

„Daher sind Schulschließungen jetzt besonders wichtig“, kommentiert Epidemiologe Karl Lauterbach – „weil sonst in wenigen Wochen viele Familien schwer erkranken“, wie er prognostiziert. Ob dem im Falle der Kinder tatsächlich so ist, ist allerdings fraglich, erkranken sie meist doch, wenn überhaupt, sehr mild. Dass bei einer sehr hohen Anzahl an Infizierten aber auch einige Kinder schwer getroffen sein werden, ist nachvollziehbar.

Vor allem aber die hohen Zahlen bei den Eltern sehen manche Mediziner kritisch. „Nichts ist furchtbarer als der Abschied von kleinen Kindern von ihren Eltern“, erklärt Lauterbach. „Genau das droht aber in der dritten Welle jetzt, wenn gerade ungeimpfte Familien das höchste Risiko tragen.“

Divi-Leiter: „Es sind die Berufstätigen, die gerade auf der Intensivstation liegen“

Jeder, der das für ‚Panikmache‘ halte, solle sich demnach einmal auf den Covid-Stationen im Land umsehen, 40- bis 50-Jährige seien dort keine Rarität mehr. Und in der Tat ist das Alter der auf den Intensivstationen behandelten Patienten in den vergangenen Wochen gesunken, bestätigen Mediziner. Bundesweite, öffentliche Daten zum Alter von behandelten Covid-Patienten gibt es zwar nicht. RKI-Vize Lars Schade stellt zuletzt aber bereits fest: „Wir sehen jetzt schon auf den Intensivstationen, dass sich die Patienten dort ändern, sie werden jünger.“

Und auch der Leiter des Divi-Intensivregisters, Christian Karagiannidis, berichtet von zunehmend jüngeren Patienten auf den Stationen: „Wir sehen das gerade bei uns in Köln: Es sind die Berufstätigen, die gerade auf der Intensivstation liegen“, erklärt der Oberarzt des Klinikums Köln-Merheim.

Kinderärzte betonen geringes Erkrankungsrisiko bei Kindern

Dass die Infektionen für die Kinder selbst in aller Regel harmlos verlaufen, darauf weisen indes erneut die Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie (DGPI) und die Deutsche Gesellschaft für Krankenhaushygiene (DGKH) hin. Demnach wurden bislang lediglich 1259 Kinder mit nachgewiesener Corona-Infektion in Kliniken behandelt. 62 der 1259 Kinder und Jugendlichen (fünf Prozent) mussten auf einer Intensivstation behandelt werden. Seit Beginn des Registers im März 2020 wurden demnach insgesamt acht verstorbene Kinder gemeldet, davon waren drei Kinder in einer palliativen Situation verstorben, in einem Fall war die Einordnung nicht möglich. Bei insgesamt vier Kindern wurde Covid-19 seither als Todesursache festgestellt.

Jeder einzelne Fall eines schwer erkrankten oder verstorbenen Kindes an einer Sars-CoV-2-Infektion sei ein Fall zu viel und ein unerträgliches Einzelschicksal für Kind und Familie, erklären die Fachgesellschaften. Die seit Beginn der Pandemie gemachte Beobachtung, dass von den schätzungsweise 14 Millionen Kindern und Jugendlichen in Deutschland nur etwa 1200 mit einer Corona-Infektion im Krankenhaus (< 0,01 Prozent) behandelt werden mussten und vier an ihrer Infektion verstarben (< 0.00002 Prozent), sollte den Mediziner nach allerdings Anlass sein, Eltern übergroße Sorgen vor einem schweren Krankheitsverlauf bei ihren Kindern zu nehmen.

In der Saison 2018/19 wurde Influenza bei insgesamt 116 Kindern als Todesursache gemeldet. Nach Angaben des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur lag im Jahr 2019 die Zahl der durch einen Verkehrsunfall getöteten Kinder bei 55, nach Angaben der DLRG die Zahl der ertrunkenen Kinder bei 25. Diese Zahlen sollten und dürften dabei keinesfalls gegeneinander aufgerechnet werden, betonen die Kinder- und Jugendärzte, mögen aber bei der Einordnung helfen.

Zusammengefasst bedeutet das: So wie schon zu Beginn der Pandemie vermutet, haben Kinder und Jugendliche ein extrem kleines Risiko, selbst schwer an Covid-19 zu erkranken oder sogar zu versterben. Die Annahme, dass sie Infektionen nicht oder nur sehr viel weniger weitergeben als Erwachsene, scheint allerdings nicht mehr zutreffend zu sein. Entsprechend verschoben hat sich damit auch ihre Rolle für das Gesamtinfektionsgeschehen in Deutschland.

Ursachen-Suche: Warum steigen die Infektionszahlen bei Kindern so stark?

Grund 1: Mehr Tests führen zu mehr identifizierten Infektionen.

Als Erklärung führen Epidemiologen primär drei Gründe an. Dass Schüler und Schülerinnen mehr getestet werden als in der ersten und zweiten Welle sowie auch häufiger als andere gesellschaftliche Gruppe, spielt dabei eine zentrale Rolle. Das betont die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin in einer Erklärung. „Bei der Interpretation der Daten des RKI muss beachtet werden, dass die Testhäufigkeit bei Kindern im Vergleich zu Erwachsenen in diesem Zeitraum erheblich zugenommen hat“, heißt es darin.

„Das ist sicherlich ein Teil der Infektionen“, bestätigt Virologin Sandra Ciesek im NDR-Podcast. „Aber das erklärt natürlich nicht alle“, betonte sie. Der Virologin zufolge habe „sicherlich auch die B.1.1.7-Variante einen Einfluss, weil die Übertragung, das wissen wir, in allen Altersgruppen erhöht ist“.

Grund 2: Briten-Mutation könnte Kinder verstärkt treffen.

Das jedenfalls legen erste Fälle und im Preprint veröffentlichte Studien nahe. Die britische Mathematikerin Sarah Rasmussen etwa zeigte in einer unlängst publizierten Analyse, dass sich die Mutation B.1.1.7 unter Jüngeren besonders stark verbreiten soll. Allerdings geht die Wissenschaftlerin hier von einer recht großen Altersgruppe von 0- bis 19-Jährigen aus. Diese Altersgruppe mache „bei B.1.1.7 tendenziell einen größeren Anteil der Gesamtfälle aus als beim Wildtyp und weise wahrscheinlich einen größeren relativen Anstieg der Infektiosität auf als andere Altersgruppen“, lautete das Fazit der Mathematikerin.

Bereits Ende 2020 und im Januar 2021 hatten britische Studien, darunter auch eine Publikation des Imperial College London auf eine stärkere Verbreitung unter Kindern hingewiesen. Diese Daten bezogen sich jedoch auf einen Zeitraum, in dem die Schulen geöffnet waren und wurden mit einer Phase verglichen, in der Schulen geschlossen waren. Demnach war zunächst nicht klar, woher dieser Anstieg in der niedrigen Altersgruppe tatsächlich rührte. Die Annahme der erhöhten Infektionen bei Kindern wurde daraufhin vorerst verworfen.

Grund 3: Öffnung von Schulen und Kitas sorgt für mehr Kontakte und damit mehr potenzielle Übertragungen.

Als dritten Grund für die gestiegenen Fallzahlen bei Kindern und Jugendlichen führen Experten die zumindest teilweise Öffnung der Schulen und Kitas an. Wo mehr Kontakte stattfinden, ist die Gefahr für Ansteckungen ebenfalls größer.

Entsprechend vehement hatte etwa die Virologin Melanie Brinkmann zu Beginn der dritten Welle Schulöffnungen abgelehnt. Das bittere Fazit der Wissenschaftlerin lautete schon damals: „Wer die Dynamik des Virus verstanden hat, kann darüber nur entsetzt sein.“ Und auch Virologin Sandra Ciesek berichtet im Corona-Podcast des „NDR“ von Corona-Ausbrüchen in Kitas und Schulen, die eher größer seien als noch vor einem halben Jahr, als B.1.1.7 noch keine Rolle gespielt hat. Das bedeute, dass die Anzahl der Infektionen eines Clusters in diesem Umfeld inzwischen größer sei.