Laut RKI-Schätzungen steckt aktuell jede am Coronavirus erkrankte Person in Deutschland im Schnitt nur eine weitere an. Das ist ein Erfolg, findet Virologe Christian Drosten. Allerdings warnt er vor gefährlichen Hintergrund-Effekten, die sich in den Zahlen nicht widerspiegeln – und eine unerwartete Wucht der Infektionswelle bedingen können.
Sorge vor unerwarteter Wucht der Infektionswelle: Drosten warnt
21. April 2020
In Deutschland liegt der Reproduktionswert des Virus laut aktuellen Schätzungen knapp unter 1. Virologe Christian Drosten von der Berliner Charité bewertet die Zahl sehr positiv. Die Lockerung der Maßnahmen hält der Virologe daher für naheliegend, sie bereitet ihm aber auch Sorgen, wie er im NDR-Podcast „Das Coronavirus-Update“ erzählt.
„Natürlich ist es so, dass die Politik nicht davon ausgeht, dass der R-Wert wieder über 1 ansteigt“, sagt Drosten. „Die Frage, die man sich immer stellen muss, ist aber: Können wir was übersehen haben? Wenn ja: Was könnte das sein?“
Konkret meint Drosten damit, dass sich das Virus trotz aller Erfolge sozusagen „unter der Decke der Maßnahmen“ weiter verbreitet – und das unbemerkt. Zwei Diffusionseffekte werden hierbei laut Drosten auftreten: örtliche Diffusion und altersmäßige Diffusion.
Örtliche Diffusion
Besonders zu Beginn der Pandemie haben sich in Deutschland örtliche Virus-Hotspots wie beispielsweise der Landkreis Heinsberg gebildet. Durch eine schnelle Kontaktminimierung wurde die heterogene Konzentration der Fälle sozusagen eingefroren. Hierdurch zeichneten sich auf der Landkarte auf der einen Seite stark, und auf der anderen kaum vom Virus betroffene Orte ab.
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Auch jetzt lassen sich die auffälligen lokalen Auswüchse der anfänglichen Einschleppung noch erkennen. Was laut Drosten allerdings bisher nicht in den Zahlen zu finden ist, sind die Fälle, die im Hintergrund in andere Gebiete verschleppt wurden. Beispielsweise dadurch, dass trotzdem besucht oder verreist wurde oder bestimmte Treffen unter Ausnahmeregelungen stattgefunden haben.
Altersmäßige Diffusion
Zu Beginn der Pandemie wurde das Virus außerdem besonders durch die junge und mittelalte Bevölkerungsschicht übertragen. Ältere Personen seien zunächst wenig betroffen gewesen.
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Drosten sieht allerdings eine „langsame Weiterverbreitung über die Zeit in ältere Altersgruppen, die wir bis jetzt noch nicht so genau bemerkt haben.“ Er befürchtet, dass bereits Infektionsketten unter älteren Personen laufen. Gründe hierfür könnten sein, dass man sich eben doch mal mit Bekannten getroffen oder Besuch von den Enkeln bekommen hat.
„Infektionswelle, die man nicht erwartet hatte“
Aktuell seien derartig bedingte Auswüchse dieser Hintergrundeffekte noch nicht in den Zahlen zu sehen. Aber: „Wenn der Reproduktionswert wieder über 1 steigen sollte, geht plötzlich die Epidemie-Tätigkeit in überproportionaler Art und Weise wieder los wegen der örtlichen Verteilung“, benennt Drosten seine Befürchtung.
Sorgenvoll stimmt ihn, dass „die Personen, die dann überall in Deutschland als Neuinfizierte auftauchen werden, eben nicht mehr die 35-Jährigen sind, sondern plötzlich der 70-Jährige und dessen soziale Kontakte, die vielleicht auch in dieser Altersgruppe sind.“
„Auf einmal hat man eine Wucht einer Infektionswelle innerhalb von einem Monat, die man nicht erwartet hatte“, erklärt der Virologe. Auch mit Blick auf die Intensivstationen der Krankenhäuser könne ein derartiger Effekt eine Belastung „in einer Art, mit der man jetzt im Moment nicht rechnet“ mit sich führen.
„Ich erwarte, dass es dazu kommt“
Der Virologe macht klar, dass eine derartige Entwicklung für ihn keine Spekulation ist: „Das sind Diffusionseffekte, die fast zwangsläufig sind. Ich erwarte, dass es dazu kommt – und dass wir plötzlich eine Neubewertung unserer alten Erfahrungen in Deutschland machen müssen und vielleicht keine Zeit mehr für diese Neubewertung haben.“
Quelle: Focus Online Dienstag, 21.04.2020, 15:50