Mehr Fälle, striktere Maßnahmen? Soziologie-Professor: Zweiten Lockdown übersteht Deutschland nur unter drei Bedingungen
30. Juli 2020Die Corona-Zahlen steigen. Das RKI ist in Sorge ob einer potenziellen zweiten Welle und damit der erneuten massenhaften Ausbreitung des bislang so konsequent eingedämmten Virus. Doch Deutschland hat keine Lust mehr auf den Pandemie-Modus.
Die Corona-Warnmelder leuchten wieder. Nach Wochen des vorsichtigen Aufatmens wegen sinkender Fallzahlen in Deutschland warnt das Robert-Koch-Institut (RKI) am Dienstag vor einer Trendumkehr. Man sei in „großer Sorge“, die Lage diffus, überall beobachten die Gesundheitsämter anschwellende Quoten bei den Neuinfektionen. Ob es sich dabei um den Beginn der viel zitierten zweiten Welle handelt? Kann sein. Keiner wisse das so genau.
Was es aus Sicht der obersten Infektionsschutz-Behörde jetzt allerdings dringend braucht, damit die Lage nicht eskaliert: Ein Kollektiv, das sich an die vereinbarten Corona-Regeln hält. RKI-Chef Lothar Wieler appelliert deshalb an die Bevölkerung – und betont: „Das schaffen wir nur gemeinsam.“
Zweite Welle = zweiter Lockdown?
Aber fällt vielen der Corona-Schutz zunehmend schwer. Sie wollen unbeschwert an vollen Flussufern in den Städten ihren Feierabend genießen, zumindest innerhalb Europas wieder reisen, feiern, sich nicht mehr ständig zuhause einigeln. Maßnahmen, die all das staatlich verbieten würden, könnten bei weiter kletternden Fallzahlen jedoch sehr schnell wiedereingeführt werden.
Als letzter ihnen vorzuschiebender Riegel könnte auf die zweite Welle dann der zweite Lockdown folgen. Doch würde Deutschland das überhaupt erneut mittragen?
Zweiten Lockdown übersteht Deutschland nur unter drei Bedingungen
Soziologe und Risikoforscher Ortwin Renn geht davon aus. Mehr als 70 Prozent der Deutschen seien Umfragen zufolge nach wie vor bereit, im Zweifel erneut schärfere Maßnahmen zu akzeptieren, um das Pandemie-Risiko zu reduzieren. Lokale Komplett-Schließungen von Restaurants, Schulen, Büros und Co. hält er dabei aufgrund ihrer eindeutigen Zuordnung zu einem konkreten Infektionscluster für deutlich einfacher durchzusetzen als den republikweiten Shutdown.
„Aber auch der ist machbar“, prognostiziert der Professor für Soziologie im Gespräch mit FOCUS Online – unter drei Voraussetzungen:
- „Einerseits muss aus der Fachwelt eindeutig das Signal kommen: Das ist jetzt die zweite Welle und nicht mehr nur kleinere, lokale Ausbrüche.“
- „Zweitens muss die Politik diese Auffassung wie bisher konsistent und glaubwürdig sowohl auf Landes- wie Bundesebene vertreten.“
- „Drittens muss die Politik einen Eskalationsplan vorlegen, der sowohl transparent regelt, welche Maßnahmen wie lange notwendig sind, als auch vor allem die wirtschaftliche Existenz der Menschen während dieser Zeit sichert.“
Erfüllt das Krisenmanagement der politischen Pandemie-Manager eines der Kriterien nicht, könne die Akzeptanz strengerer Maßnahmen schnell in sich zusammenbrechen, warnt Renn. Das gelte insbesondere deshalb, weil sich in der Wahrnehmung des Virus und seiner risikobehafteten Implikationen seit Beginn der Pandemie bei vielen ein starker Gewöhnungseffekt eingestellt habe.
„50 Neuinfektionen erschrecken die Leute heute nicht mehr. Im Januar waren das große Zahlen. Bei vier Millionen Infizierten in den USA und 150.000 Toten erscheinen sie heute aber verschwindend gering“, erklärt Renn. „Wir gewöhnen uns schnell an neue Zustände, die wir noch vor sechs Monaten als absolute Ausnahme angesehen haben.“
Zur Person
Ortwin Renn, Jahrgang 1951, ist habilitierter Soziologe und seit 2016 wissenschaftlicher Direktor am Institut für Transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS) in Potsdam sowie Inhaber des Lehrstuhls „Technik- und Umweltsoziologie“ an der Universität Stuttgart. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Risikokommunikation und die Partizipationsforschung.
Zudem halten viele das Virus heute subjektiv für weniger bedrohlich als noch vor einigen Monaten. Die Meldungen über potenzielle Langzeitschäden und permanente Neuinfektionen registrieren die meisten zwar. Die nicht-überfüllten Kliniken und den sich zunehmend wieder regulär einpendelnden Alltag aber eben auch. „Das signalisiert trotz Pandemie Normalität“, erläutert Renn.
Finanzielle Sicherheit als Voraussetzung
Die finanziellen Konsequenzen im Fall eines erneuten Lockdowns für den Einzelnen hält der Professor daher für besonders relevant, wenn es um die Unterstützung aus der Bevölkerung geht.
Grundsätzlich teilt er sie in drei Gruppen ein – die sich gesellschaftlich etwa in gleichgroße Teile von je einem Drittel aufsplitteten:
- Menschen, die den Lockdown zwar als persönlich unangenehm empfunden haben, aufgrund ihres Jobs aber zum Beispiel im Home Office regulär arbeiten konnten und zudem privilegiert oft mit Haus und Garten wohnen. „Sie kämen auch mit einem zweiten Lockdown zurecht“, ist sich Renn sicher. Manche von ihnen hätten die Entschleunigung ihres sonst häufig sehr stressigen und durchgetakteten Lebens durch die Pandemie sogar begrüßt.
- Menschen, die corona-bedingt wirtschaftlich zwar gebeutelt sind, aber insgesamt bisher mit einem blauen Auge durch die Pandemie gekommen sind. „Etwa weil sie in Kurzarbeit waren oder ihr Restaurant nun mit geringeren Gästezahlen gerade noch halten können“, erläutert Renn. Bei einem erneuten Lockdown drohten sie allerdings in die dritte Gruppe abzurutschen.
- Menschen, denen die Krise existenziell zusetzt. „Sie haben entweder ihren Arbeitsplatz verloren, haben keine finanziellen Rücklagen mehr oder sie sitzen mit zwei Kindern und einem gewalttätigen Mann in der 2-Zimmer-Wohnung fest“, beschreibt der Professor die dritte Gruppe. Diese habe der erste Lockdown bereits hart getroffen. „Der zweite wäre für sie verheerend.“
Gleiten zu viele Menschen in die existenziell bedrohte Gruppe ab, könnte das fatale Konsequenzen bedeuten – wirtschaftlich wie motivational, warnt Renn. „Eine Mehrheit könnte den Lockdown dann vielleicht rational nachvollziehen, aber nicht mehr bereit sein, die wirtschaftlichen Folgen zu tragen und zum Beispiel den Betrieb für mehrere Wochen stillzulegen.“
Deshalb sei die Politik jetzt in der Pflicht, einen konkreten Pandemie-Plan zu entwickeln, „der sicherstellt, dass zumindest die wirtschaftliche Grundlage dieser Menschen bei einem weiteren Lockdown nicht erneut zusammenbricht“, fordert der Soziologe.
Corona-Leugner machen besonders viel Lärm
Insgesamt bewertet er die Stimmung in der deutschen Bevölkerung sechs Monate nach dem Ausbruch der Pandemie als weitaus weniger homogen als am Anfang. „Wir sehen mittlerweile eine deutliche Polarisierung“, analysiert Renn. Die Mehrheit stehe weiterhin hinter dem gesamtgesellschaftlichen Kampf gegen das Virus. „Aber es gibt auch eine Gruppe, die sich totzustellen versucht“, sagt er. „Diese Menschen behaupten seit Beginn der Krise, sie beträfe das Virus ohnehin nicht und spielen die Gefahr herunter.“ Durch die zumindest hierzulande bislang moderaten Opferzahlen sehen sie sich jetzt in ihrer Haltung bestätigt.
Renn erklärt: „Übersetzt gesagt: Ich habe gestern Party gemacht, ich habe vorgestern Party gemacht – und mir ist bis heute nichts passiert. Deshalb will ich das auch morgen und übermorgen machen.“
Doch sind diese Menschen mit 15 bis 20 Prozent in der deutlichen Minderheit, betont der Professor. Das Problem: „Sie sind in der öffentlichen Debatte viel lautstärker als der Großteil, der sich brav an die Regeln hält und sie als sinnvoll erachtet. Das könnte künftig noch zum öffentlichen Ärgernis werden.“
Von ihrem Bagatellisieren der Situation hält Renn auch inhaltlich wenig. „Wir alle haben Angst vor der Wiederkehr des Virus. Das ist auch leider nichts völlig Irreales. Und genau deshalb sollte man das offensiv ansprechen, dass man alles tut, damit es nicht zu einer neuen Massenausbreitung kommt. Wenn sie aber doch kommen sollte: Dann haben wir einen Plan, wie wir als Gesellschaft da durchkommen.“
FO.: Donnerstag, 30.07.2020, 09:17