Erst waren es die Alten und Kranken, jetzt trifft Covid-19 zunehmend auch junge Menschen. Erklären lässt sich das durch die veränderte Teststrategie des RKI. Aber auch der Leichtsinn mancher Junger trägt dazu bei.
Das Durchschnittsalter der deutschen Corona-Patienten sinkt. War ein Infizierter im April im Schnitt noch 52 Jahre alt, ist er heute nur mehr 36 Jahre alt. Das geht aus dem aktuellen Lagebericht des Robert-Koch-Instituts (RKI) hervor.
Gleichzeitig hat sich die Zahl junger Patienten zwischen 18 und 25 Jahren verdreifacht, die Kliniken in den USA stationär behandeln. Kanada warnt explizit junge Erwachsene davor, sich als durch das Virus unverwundbar zu begreifen. Haben wir die Gefahr durch Sars-CoV-2 für junge Menschen bisher womöglich unterschätzt?
Covid-19: Junge infizierten sich bisher oft unterhalb des RKI-Radars
Epidemiologe Ralf Reintjes verneint diese Frage. „Die Fälle zu Beginn der Epidemie waren nur die absolute Spitze des Eisbergs, die wir gesehen haben“, ordnet er im Gespräch mit FOCUS Online ein. „Die Menschen mit starken Symptomen waren primär Ältere.“ Viele junge Patienten hingegen zeigten keine bis kaum Krankheitszeichen. „Wir haben sie deshalb anfangs übersehen, weil nur getestet wurde, wer Symptome und direkten Kontakt zu einer Person mit nachgewiesener Infektion hatte. Daher ist es relativ logisch, dass wir, wenn wir jetzt mehr und unabhängig von Symptomen testen, auch mehr Junge unter den Infizierten beobachten“, erklärt der Professor der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg.
Verstärkt werde diese Entwicklung inzwischen von dem vor allem bei jüngeren Altersklassen zunehmend laschen Umgang mit den Corona-Regeln. Bei vielen scheint das Bedürfnis nach Gemeinschaft, einem entspannten Abend mit Freunden im Park, mittlerweile schwerer zu wiegen als die Angst vor dem Virus. Viele treffen nicht nur wieder mehr Menschen, sondern lassen auch Abstand und Hygiene schleifen. Ansteckungen sind dann häufig die Folge.
Epidemiologe Reintjes besorgt dieser Trend aus zwei Gründen:
1. Infizierte ohne Symptome treiben die Pandemie.
„Je weiter sich das Virus bei jungen Menschen verbreitet, desto stärker und diverser verbreitet es sich in der Gesellschaft“, erklärt der Professor.
Denn: Junge Menschen haben in der Regel einerseits mehr soziale Kontakte, an die sie das Virus weitergeben können, als ältere. Andererseits bemerken sie eine Infektion angesichts ausbleibender Symptome häufig nicht und isolieren sich daher auch nicht. Stecken sich mehr Menschen an, steigt allerdings auch die Zahl der schweren Krankheitsverläufe.
2. Asymptomatische verhindern klaren Überblick über Infektionen.
„Je weniger Symptome Infizierte zeigen, desto weniger Überblick haben wir darüber, wer wirklich infiziert ist“, schildert Reintjes weiter. Maßnahmen können dadurch weniger zielgerichtet eingesetzt werden, Einschätzungen der aktuellen Lage sind weniger realistisch.
Warum das Durchschnittsalter der Covid-19-Patienten weiter sinken wird
Der Epidemiologe geht davon aus, dass die Gesamtzahl der Infektionen in den kommenden Tagen und Wochen vermutlich wieder deutlich ansteigen wird – und das durchschnittliche Alter der Infizierten weiter sinken.
Maßgeblich dafür verantwortlich: die Öffnung der Schulen. „Dadurch werden künftig verstärkt sehr junge Menschen betroffen sein, die bisher intensiv geschützt und aus dem Infektionsgeschehen herausgehalten worden sind“, sagt Reintjes. „Sie werden jetzt vermehrt exponiert. Der Altersdurchschnitt wird dadurch noch deutlich nach unten gehen“, prognostiziert er.
Auch regional zeigen sich Veränderungen bei den Neuinfektionen
Doch nicht nur demografisch verändert sich die Corona-Lage in Deutschland gerade, auch regional verschiebt sich das Infektionsgeschehen. Statt klar einem Ausbruchscluster zuzuordnende Infektionen meldet das RKI seit einigen Wochen immer mehr Ansteckungen in immer mehr Landkreisen. Die Lage sei diffus, zu Übertragungen komme es „wirklich überall“, betonte unlängst RKI-Fachbereichsleiterin Ute Rexroth – bei Familienfeiern, Treffen mit Freunden, im Büro, in Altenheimen wie Gemeinschaftsunterkünften.
„Die Zahl der weißen Landkreise mit wenigen Fällen ist in den letzten Wochen stark rückläufig“, bestätigt Epidemiologe Reintjes. Vor allem die Ferienorte an der deutschen Ostseeküste zählten seit Beginn der Urlaubssaison steigende Infektionen.
Bisher seien die Zahlen deutschlandweit noch auf einem kontrollierbaren Niveau. „Aber die Corona-Karte ist schon sehr gelb geworden“, analysiert Reintjes – und das deutlich früher als es Epidemiologen bislang prognostiziert hatten.
„Es war zu erwarten, dass die Infektionszahlen im September oder Oktober aufgrund der klimatischen Veränderungen und den veränderten Verhaltensweisen anziehen werden“, erklärt der Professor. „Dass sie jetzt bereits im Juli und August den Weg nach oben finden, ist deshalb schon besorgniserregend.“ Insbesondere, wenn zusätzlich über Tausende Zuschauer in Fußballstadien und in Konzertsälen diskutiert wird, wie er betont. „Damit tun wir uns keinen Gefallen. Gerade jetzt, wo wir den Effekt der wieder geöffneten Schulen noch nicht sehen können.“ Dieser sei erst in vier bis sechs Wochen seriös abzuschätzen.
Epidemiologe warnt vor neuen Lockerungen
Weiteren Lockerungen steht der Epidemiologe deshalb kritisch gegenüber. Zwar sei es verständlich, dass Menschen wieder in die Stadien drängten, Urlaub machen wollen, die Kinder zurück in den Schulen und Betreuungseinrichtungen sehen möchten.
„Wenn wir aber alles wieder aufmachen, dann werden die Zahlen in den kommenden Wochen so stark steigen, dass wir sie nur noch schwer kontrollieren können“, warnt er. „Deshalb sollten wir jetzt viel vorsichtiger sein, als es viele junge Menschen gerade sind.“ Wähnen sie sich in falscher Sicherheit, hat das Konsequenzen – nicht nur für sie, sondern für alle.