Epidemiologe: „Wenn wir jetzigen Trend nicht stoppen, wird es im Herbst schwierig“
14. August 2020Täglich gibt es mehr Sars-CoV-2-Infizierte, lokale Ausbrüche in ganz Deutschland, Reiserückkehrer mit Covid-19 im Gepäck. Gleichzeitig steigt die Sorglosigkeit, werden Großveranstaltungen geplant. Eine gefährliche Kombination, sagen Experten.
„Die Pandemie ist nicht vorbei.“ „Wir müssen sehr wachsam bleiben.“ „Die Zahlen sind besorgniserregend.“ – Die mahnenden Worte von Virologen, Gesundheitsminister und RKI scheinen im heißen August bei vielen Deutschen auf taube Ohren zu stoßen. Dabei sind es längst nicht nur die selbsternannten „Querdenker“, die es mit Masken, Abständen und großen Feiern nicht mehr ernst nehmen. Von freiwilliger Quarantäne nach einem Urlaub im Risikogebiet ganz zu schweigen.
Dabei sprechen die aktuellen Corona-Zahlen eine andere Sprache: Am 13.8. gab es 1445 Neuinfektionen an einem Tag, die höchste Zahl seit 1. Mai. Die aktiven Fälle liegen bei über 12.000, am 19. Juli waren es gerade einmal 5800.
FOCUS Online fragte zwei Fachleute nach der Bedeutung des aktuellen Coronageschehens in Deutschland: den Epidemiologen Ralf Reintjes von der Hamburg Universität für Angewandte Wissenschaften (HAW) und den Virologen Friedemann Weber von der Universität Gießen. Das sind ihre Einschätzungen.
Epidemiologe Ralf Reintjes zur aktuellen Covid-19-Entwicklung in Deutschland:
Ralf Reintjes sagt: „Eine Epidemie folgt einer Logik. Sie breitet sich aus, wo ihr Gelegenheit dafür geboten wird. Und wir öffnen ihr gerade Tür und Tor.“
Er kritisiert vor allem, dass von der Politik momentan sehr widersprüchliche Botschaften gesendet werden. Dort heiße es zwar, die Infektionszahlen seien bedenklich und man müsse vorsichtig bleiben, „aber gleichzeitig gibt es Bestrebungen, in Nordrhein-Westfalen ein Großkonzert zu veranstalten, oder die Bundesliga baldmöglichst mit Publikum stattfinden zu lassen.“
Und er bemängelt: „Auf der einen Seite werden die Strafen für Verfehlungen gegen die Corona-Auflagen verschärft, andererseits werden wichtige Schutzmaßnahmen zurückgefahren.“ Es müssten derzeit aber einheitliche deutliche Signale kommen, die zur Vorsicht raten.
Mit dem dilettantischen Vorgehen bei der Testung von Reiserückkehrern in Bayern habe man die Chance vertan, Tausende von Infektionen zu verhindern, meint der Epidemiologe zum aktuellen Corona-Aufreger. Aber generell müssten die Tests von Reisenden anders laufen. „Man kann gern einen Test bei der Landung am Flughafen machen, aber danach eine Quarantäne von sechs Tagen einhalten und dann muss ein weiterer Test durchgeführt werden.“ Erst dann wäre auch gesichert, dass die Menschen sich nicht im Gedränge am Flughafen oder im Flieger infiziert haben.
Besser Schüler regelmäßig testen statt Publikum im Stadion
Auch müsste zielgerichtet getestet werden, zum Beispiel an Schulen. Kinder sollen unbedingt wieder zur Schule gehen, aber man muss dafür sorgen, dass dadurch keine großen Infektionsgeschehen entstehen. „Wenn dort wochenweise einzelne Klassen getestet würden, die dann bei einem positiven Fall als Cluster in Quarantäne geschickt würde, wäre das sinnvoller, als zigtausend Besucher eines Fußballstadions zu testen.“
Der Anstieg der Infektionszahlen zeige einen Trend, den es umzudrehen gelte. „Wir können nicht alles wieder so machen wie vor der Pandemie“ sagt Reintjes. „Um eine neuerliche schwere Erkrankungswelle zu verhindern, müssen wir als Gesellschaft andere Prioritäten setzen.“
Der Epidemiologe sieht einen Basisfehler für die jetzige Situation im Frühjahr. „Wir hätten damals, als die Zahlen nach unten gingen, die Einschränkungen noch etwas länger aufrecht halten sollen und nicht so schnell wie möglich alles lockern. Dann wären wir auf viel niedrigere Zahlen gekommen und hätten jetzt eine bessere Startposition für Herbst und Winter.“
Für Ralf Reintjes liegt jetzt alles daran, die Infektionszahlen deutlich zu senken: „Wenn wir die Trendwende jetzt noch hinkriegen, werden wir zwar im Herbst höhere Infektionszahlen bekommen, aber abwenden können, dass das gesellschaftliche Leben wider heruntergefahren werden muss. Wenn wir es laufen lassen und jeden Tag mehrere tausend Fälle haben, dann wird es sehr schwer werden im Herbst und Winter.“
Virologe Friedemann Weber zur aktuellen Corona-Entwicklung:
Virologe Friedemann Weber ist „immer noch verhalten optimistisch, dass die Zahl der Infektionen das aktuelle Level nicht dramatisch übersteigen werden.“
Auch wenn wir derzeit Ausbrüche quer durch Deutschland haben, so handle es sich immer noch um lokale Ausbrüche. „Von einer 2. Welle würde ich noch nicht sprechen, das ist ohnehin Definitionssache. Vielmehr ist die 1. Welle zwar zwischenzeitlich abgeflaut, aber nie ganz verschwunden.“
Auf die Testpanne in Bayern angesprochen, meint der Virologe, dass man derzeit noch nicht sagen können, welche Auswirkungen sie auf das Infektionsgeschehen in Deutschland haben wird. „Aber 900, eher 1000 positiven Fälle, die von ihrer Infektion wochenlang nicht erfahren haben, fallen da schon ins Gewicht.“
„Die konstante Fallzunahme der letzten Wochen birgt jedoch die Gefahr einer exponentiellen Anstiegs“, sagt Weber. „Der R-Wert, also die statistischen Größe, die angibt, wie viele andere Personen ein Infizierter ansteckt, mäandert seit Wochen um die Zahl 1 herum.“ Auf der Seite „reproduktionszahl-corona.de“ wird sie am 13.8. mit 1,05 angegeben. „Gefährlich für die Infektionsdynamik wird es, wenn der Wert konstant über 1 liegt. Dann wird die Zahl der Infizierten nur wachsen, und zwar exponentiell.“
Infektionszahlen müssen jetzt sinken, sonst wird der Herbst heikel
Und in Hinblick auf die kalte Jahreszeit sagt Friedemann Weber: „Bis zum Herbst sollten die derzeit beachtlichen Infektionszahlen deutlich sinken, sonst könnte es im Herbst heikel werden. Dann sind wieder größere Ausbrüche zu erwarten, und diese sollten nicht schon von einem hohen Infektionslevel ausgehen.“ Dann bestehe nämlich die Gefahr, dass die Infektionsketten nicht mehr nachvollziehbar und damit unkontrollierbar werden.
„Noch ist die Lage nicht hochbrisant, wir steuern derzeit nicht direkt auf einen Lockdown zu. Aber wir sind alle gefordert weiterhin aufzupassen und nicht leichtsinnig zu werden.“