Politik ist planlos? Pendeln wird im Herbst zum Virus-Lotto – jetzt braucht es mehr als Masken-Kontrolle

21. August 2020 Aus Von mvp-web
Viele haben wegen Corona ein mulmiges Gefühl, wenn sie in den Bus oder die Bahn steigen.

Die Betreiber und der Verkehrsminister wollen die Passagiere mit strengen Masken-Kontrolle und offenen Türen zurücklocken. Ein wirkliches Konzept gibt es bislang nicht. So könnte es aussehen.

Noch hat der Sommer Deutschland und seine Städte voll im Griff. Viele nutzen für ihren Weg zur Arbeit das Rad oder gehen zu Fuß. In Zeiten der Pandemie meiden viele Deutsche Bus, Bahn und Tram. Zu groß ist Ihnen Gefahr, sich im öffentlichen Nahverkehr mit dem Coronavirus anzustecken.

So gaben im Ende Mai erschienen Infas-Mobilitätsreport zur Alltagsmobilität während der Coronapandemie gut ein Drittel der Befragten an, aktuell lieber das Auto statt den ÖPNV zu nutzen. Und jeder Fünfte tritt aus Sorge vor einer Ansteckung lieber in die Pedale.

Öffentlicher Nahverkehr: Auch diesen Winter werden die Züge voll sein

Doch spätestens, wenn im September und Oktober die Temperaturen sinken, fallen das Rad und der Spaziergang als Fortbewegungsmittel in der Stadt für viele wieder weg. Die Konsequenz: Es dürfte wieder eng werden in Bussen und Bahnen.

Auch der Mobilitätsexperte Andreas Knie rechnet mit einem massiven Anstieg bei der ÖPNV-Nutzung in den kommenden Monaten: „Diejenigen, die vergangenen Winter Stammgäste bei Bus und Bahn waren, werden es auch diesen Winter sein. Schließlich sind darauf angewiesen.“

Bei der Vorstellung, wie sich Berufspendler und Schüler dicht an dicht in Abteile drängen, dürfte es Politikern und Virologen mulmig werden. Welchen Schaden ein einzelner Infizierter in einer Menschenmenge anrichten kann, zeigte kürzlich zum Beispiel eine Hochzeit in Hessen. 160 Menschen mussten unter Quarantäne gestellt werden, nachdem ein Gast zu spät über seinen positiven Corona-Befund informiert worden war und 30 weitere Personen angesteckt hatte.

Volle Busse und Bahnen erreichen die Dimensionen einer Hochzeitsgesellschaft leicht. So werden in einer vollbesetzten U-Bahn der Münchner Verkehrsgemeinschaft (MVG) bis zu 1000 Personen auf einmal befördert – eine Nachverfolgung des Infektionsgeschehens? Kaum vorstellbar.

Politisches Konzept für ÖPNV fehlt

Von der Politik hört man zu diesem Thema wenig. Ein wirkliches Konzept, wie der öffentliche Nahverkehr im Corona-Herbst und -Winter sicher und zuverlässig funktionieren soll, gibt es bislang nicht. Die Bußgelder für Masken-Verweigerer wurden zwar erhöht. Doch die gemeinsame Kampagne von Verkehrsminister Andreas Scheuer und den Betreibern des öffentlichen Nahverkehrs für eine Einhaltung der Maskenpflicht sowie verstärktes Durchlüften in Bussen und Bahnen wirken wie ein Ausdruck der Ratlosigkeit. Und: Gerade im Winter dürften offene Türen zur Durchlütgung bei den Fahrgästen für wenig Begeisterung sorgen.

„Ein Patentrezept gibt es nicht“, gibt ein Sprecher der MVG im Gespräch mit FOCUS Online zu. Weil die allermeisten Verkehrsbetriebe bereits an ihrer Kapazitätsgrenze arbeiten, ließe sich das Angebot nicht einfach einfach erhöhen. Die naheliegendste Idee, mehr Platz durch mehr Fahrten zu schaffen, geht also nicht auf. Nicht nur in München sind nämlich bereits alle verfügbaren Züge und Busse im Einsatz. Dasselbe gilt, so die MVG, auch für das Personal.

Entzerrung der Nachfrage als realistische Maßnahme

Um möglichst unbeschadet durch den Herbst und Winter zu kommen, wäre aus Sicht der MVG vor allem eine Entzerrung der Nachfrage sinnvoll. Das übliche Gedränge zu den Stoßzeiten ließe sich so entschärfen.

Bis zu 100.000 Schüler nutzen zum Beispiel täglich in München den ÖPNV auf ihrem Schulweg – und das nahezu parallel, denn für die meisten ist um acht Uhr Unterrichtsbeginn. Eine Staffelung der Unterrichtszeiten könnte für einen geringeren Andrang und dadurch für mehr Platz in den Verkehrsmitteln sorgen, heißt es von der MVG. Wann der Unterricht beginnt, entscheiden die Schulen jedoch in den meisten Fällen selbst.

Nicht nur Schüler, sondern vor allem auch Millionen Berufspendler nutzen in Deutschland den öffentlichen Nahverkehr, um an ihre Arbeitsstelle zu kommen. Gefordert sind also auch Arbeitgeber, die ihre Angestellten nach dem Ende des Lockdowns zurück in die Büroräume beordert haben.

Viele Unternehmen haben sich in den vergangenen Monaten den Themen Home-Office und flexible Arbeitszeiten angenähert und gelernt, dass sich ein Großteil der Aufgaben auch in den eigenen vier Wänden erledigen lässt. Diese Strukturen sollten unbedingt aufrechterhalten werden, appelliert der MVG-Sprecher. Nur so könne das morgendliche Verkehrschaos entspannt und so die Gefahr einer erneuten Ansteckungswelle reduziert werden.

Bessere Bus-Infrastruktur könnte helfen, das Angebot kurzfristig zu erweitern

Völlig machtlos sind die Verkehrsbetriebe in deutschen Städten bei der Angebotsgestaltung aber nicht. Denn anders als U- und Straßenbahnen lassen sich zusätzliche Busse vergleichsweise zügig in das bestehende Verkehrsnetz integrieren – allerdings nur unter einer Bedingung: „Was es dafür jedoch braucht, sind Umwidmungen von Auto- in Busspuren“, fordert die MVG. Denn stünden die Busse mit allen anderen Autos immer nur im Stau, würden die Menschen das zusätzliche Angebot nicht mehr annehmen.

Gleichzeitig ist die Finanzierung einer größeren Busflotte für die wegen Corona ohnehin klammen Verkehrsbetriebe eine Herausforderung, die alleine nicht gestemmt werden kann. So rechnet die MVG für die vergangenen Monate krisenbedingt mit einem Verlust in dreistelliger Millionenhöhe.

Es braucht also nicht nur verantwortungsvolle Fahrgäste, flexiblere Unterrichtszeiten und intelligent handelnde Arbeitgeber, um das Vertrauen in die Sicherheit der öffentlichen Verkehrsmittel in Deutschland wieder herzustellen. Vor allem eine Aufstockung der Kapazitäten bei Bussen und langfristig auch bei Bahnen sorgt dafür, dass das Pendeln im Herbst und Winter nicht zum Virus-Lotto wird. Um das zu bewerkstelligen, braucht es viel Geld. Doch vor dem Hintergrund einer drohenden zweiten Corona-Welle scheint es gerade im öffentlichen Nahverkehr sinnvoll investiert.