Der Stresstest steht der SPD noch bevor

Der Stresstest steht der SPD noch bevor

16. September 2021 Aus Von mvp-web

Seit an Seit – ohne Streit: Die SPD gibt derzeit ein für die Partei ungewohntes Bild der Harmonie ab. Geschlossen stehen die Genossen hinter Kanzlerkandidat Scholz. Der Stresstest steht aber noch bevor.

Eine Analyse von Barbara Kostolnik, ARD-Hauptstadtstudio

Auf eines konnte man bei der SPD immer zählen: Es wurde verlässlich gestritten. Die Flügelkämpfe sind legendär. Die Parlamentarische Linke, angefeuert von den Jusos, lieferte sich heftige Auseinandersetzungen über den Kurs der Partei mit den eher konservativen Seeheimern. Nur unter Schmerzen ging die SPD im Frühjahr 2018 wieder in eine Große Koalition, der Streit zwischen der Pro-GroKo-Fraktion und den No-GroKo-Anhängern brach dann 2019 wieder aus, als die Partei in endlosen Regionalkonferenzen um neue Vorsitzende rang.

Von diesem fast schon existenziellen Streit in der Partei sieht und hört man heute: nichts. Das ist umso bemerkenswerter, weil die Harmonie nicht mit dem jüngsten Aufwärtstrend bei den Umfragewerten ausgebrochen ist. Die entschlossene Geschlossenheit der SPD begann weit früher, als die Umfragewerte noch im Keller waren: mit der Bekanntgabe des Kanzlerkandidaten am 10. August 2020, einmütig auf der Bühne im Willy-Brandt-Haus zelebriert – und geheim gehalten bis zuletzt.

Die Schwäche der anderen

Orchestriert wird die geschlossene Aufführung der SPD von Generalsekretär Lars Klingbeil – einer der sehr wenigen, der schon vor mehr als einem Jahr felsenfest an einen Erfolg geglaubt hatten. Wenn die Leute merkten, dass Angela Merkel nicht mehr antritt, werde das die Menschen zum Nachdenken bringen, wiederholte Klingbeil gebetsmühlenartig. Dass die Kanzlerkandidaten-Konkurrenz – Armin Laschet von der Union und Annalena Baerbock von den Grünen – Fehler an Fehler reihen und im Eiltempo Vertrauen verspielen würden, konnte der SPD-Generalsekretär da noch nicht ahnen. Scholz‘ Aufstieg hat daher auch viel mit der Schwäche der anderen zu tun.

Scholz und die SPD Der stille Aufstieg

Die SPD krabbbelt aus dem Umfragetief – über einen Kanzlerkandidaten Scholz lacht schon lange niemand mehr.

In der Parteizentrale will man sich aber nicht allzu siegesgewiss geben. SPD-Co-Chef Norbert Walter-Borjans sieht seine Partei zwar in einer sehr guten Ausgangsposition für die Schlussphase des Wahlkampfs, aber keinen Grund abzuheben.

Die Stimmung immerhin sei deutlich besser als noch vor ein paar Wochen, ergänzt Co-Chefin Saskia Esken. Damals konnten die Sozialdemokraten machen, was sie wollten und kamen doch nicht über magere 15 Prozent in den Umfragen hinaus. Dann aber folgten Baerbocks Beschönigungen im Lebenslauf und Laschets Lacher im Flutgebiet – und auf der anderen Seite ein Scholz, der in der Rolle des verlässlichen Krisenmanagers Punkte sammelte und dabei dem Stil Merkels immer ähnlicher wurde.

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Lust auf SPD – sogar in Bayern

Nun läuft der Wahlkampf, sogar in Bayern, wie die Vorsitzende der dortigen SPD-Bundestagsabgeordneten, Marianne Schieder, fast erstaunt fest stellt: Plötzlich hätten die Menschen Lust auf Wahlkampf, Lust auf die SPD, Lust auf Diskussion – und zwar nicht krawallig über Hartz IV, sondern interessiert über den Kanzlerkandidaten und das SPD-Programm. Was eindeutig an Scholz liege: Der sei eben auch für die Mitte wählbar.

Auch Esken und Walter-Borjans stehen uneingeschränkt hinter Scholz, das Zugpferd des Wahlkampfs, wie ihn Klingbeil fast euphorisch nennt. Die neue Geschlossenheit der SPD, die ganze Partei, die hinter ihrem Personal steht, all das werde selbstverständlich nach der Wahl anhalten, sagt Esken.

Die SPD-Führung steht geschlossenen hinter Kanzlerkandidat Scholz.

Scholz braucht das linke Duo

Esken will Parteivorsitzende bleiben, Walter-Borjans sagt öffentlich noch nichts dazu. Und Scholz ließ durchblicken, mit dem linken Duo an der Spitze weiterleben zu können, sollte er Kanzler werden. Noch braucht er die beiden auch, um die linke Flanke der Partei abzudecken und einzufangen. Das wissen auch diejenigen in der SPD, die mit Esken und Walter-Borjans nichts anfangen können, sondern die Augen rollen, wenn nur die Namen genannt werden. Öffentlich sagt das aber keiner.

Dafür lässt die Union keine Gelegenheit verstreichen, darauf hinzuweisen, dass Saskia Esken, Kevin Kühnert oder andere Parteilinke angeblich versteckt würden. Die SPD hingegen ist der Meinung, dass Esken, Kühnert und Co. ziemlich präsent sind. Sie versteckten sich keineswegs – und würden auch nicht versteckt. Aber ihre Kritik am Kandidaten Scholz ist nirgends zu finden, jedenfalls nicht öffentlich.

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Aber was wäre wenn, …

Nach dem Wahlabend dürfte es dann spannend werden. Ob der linke Flügel der SPD es schluckt, wenn FDP-Chef Christian Lindner in Verhandlungen über ein Regierungsbündnis mit SPD und Grünen die Vermögensteuer abräumen und die Bürgerversicherung beerdigen will? Ob die Jusos und Parteivize Kühnert still halten, wenn Zugeständnisse so einschneidend werden, dass sie viele Genossen fast schon körperlich schmerzen? Und was ist, wenn es eine realistische Option auf Rot-Grün-Rot gibt, die viele Parteilinke ganz offen bevorzugen?

Sollte die Union eine Koalition mit FDP und Grünen schmieden – ist entschlossene Geschlossenheit auch das richtige Rezept für erfolgreiche Opposition? Und was passiert eigentlich, wenn eine Große Koalition unter der Führung eines SPD-Kanzlers Scholz die letzte Lösung ist? Schwer vorstellbar, dass die No-GroKo-Leute in eine kollektive Amnesie verfallen und ihre Aversion vergessen, nur weil das Kanzleramt in SPD-Hand wäre.

Noch hält die Geschlossenheit, die der SPD in diesem Wahlkampf einen unbestreitbaren Vorteil verschafft. Ob sie über den Wahltag hinaus trägt, ist längst nicht ausgemacht. Der Stresstest steht der Partei noch bevor.