RKI warnt vor 10.000 Fällen und Kontrollverlust: Virologe erklärt, wie brenzlig Situation ist
8. Oktober 2020
Am Mittwochabend übermittelten die Bundesländer über 4000 neue Corona-Infektionen. Das Robert-Koch-Institut warnte jetzt vor einer „unkontrollierten Verbreitung“ des Virus, vor täglich über 10.000 Neuinfektionen.
FOCUS Online hat mit dem Virologen Martin Stürmer darüber gesprochen, wie realistisch diese Einschätzung, wie brenzlig die Lage in Deutschland ist – und, was uns im Herbst und Winter noch droht.
FOCUS Online: Seit Anfang September steigen die Fallzahlen in Deutschland wieder an, das RKI meldet zuletzt über 4000 Neuinfektionen. Gesundheitsminister Spahn fürchtet den Punkt, an dem wir wieder „die Kontrolle verlieren“. Was ist Ihre Einschätzung als Virologe – wie gefährlich ist die Situation?
10.000 Fälle klingen im ersten Moment verstörend. Wie realistisch ist diese Zahl?
Stürmer: Wenn das Infektionsgeschehen auf dem jetzigen Niveau bleibt, die jetzt erlassenen Maßnahmen also nicht greifen, wenn die Menschen sich nicht daran halten. Dann könnten wir relativ schnell auf einen solchen Wert kommen.
Das Problem bei den Fallzahlen ist jedoch, dass das, was wir jetzt als „aktuelles Infektionsgeschehen“ betrachten, eigentlich die Lage von vor rund 1,5 Wochen abbildet. Jetzt wurden zwar neue Maßnahmen erlassen – aber bis wir deren Auswirkungen sehen, kann es eben noch ein bis zwei Wochen dauern. Von dem her würde ich sagen: Es kann schon sein, dass wir auf diese scheinbar unrealistische, extrem hohe Fallzahl von 10.000 kommen.
Die Infektionszahlen steigen – gleichzeitig steigt aber die Zahl der Todesfälle nicht maßgeblich an.
Stürmer: Das ist richtig, und auch die der benötigten Intensivbetten nur langsam. Das hängt natürlich damit zusammen, dass sich sehr viele Jüngere infizieren. Diese belasten meist weder die Krankenhäuser noch die Intensivstationen.
Doch selbst wenn es sich bei den Neuinfektionen nicht vorrangig um Risikogruppen handelt – je mehr Menschen sich anstecken, desto größer ist auch die Gefahr, dass das Virus auf genau diese gefährdeten Gruppen übertragen wird. Dass wir den Schutz für diejenigen, die ihn brauchen, nicht mehr aufrecht erhalten können und, dass die Lage außer Kontrolle gerät – das darf uns nicht passieren.
Diese „Unkontrollierbarkeit“, die auch RKI-Chef Lothar Wieler sowie Gesundheitsminister Spahn fürchten. Woran lässt sich die festmachen? Wann ist das Virus „außer Kontrolle“ geraten?
Stürmer: Ich kann das schwer an einer Zahl oder einem konkreten Wert festmachen. Manche Experten sagen, das ist dann der Fall, sobald der Anstieg nicht mehr linear, sondern exponentiell ist. Er erfolgt dann so schnell und nicht mehr moderat, man könnte hier sagen, die Lage ist nicht mehr „kontrolliert“.
Ich würde es aber eher an etwas anderem festmachen. An dem Punkt, an dem wir die Fälle und Infektionen nicht mehr nachvollziehen können. Wenn also die Gesundheitsämter Alarm schlagen, dass sie nicht mehr hinterher kommen mit der Kontaktverfolgung – dann ist das Virus außer Kontrolle geraten. Und das gilt es zu verhindern. Wir müssen alles tun, um die Zahlen wieder herunterbekommen.
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Beim aktuellen Neuanstieg handelt es sich um den höchsten Wert seit Mitte April. Damals standen wir noch ganz am Anfang der Pandemie. Droht uns jetzt das gleiche wie in der ersten Welle?
Stürmer: Das stimmt, die Zahlen gleichen einander – dennoch lassen sich die Situationen meiner Meinung nach nicht vergleichen. Damals hatten wir einen extrem sprunghaften Anstieg, der uns überfallen hat. Jetzt steigen die Zahlen war auch wieder stark an, aber dennoch moderater, langsamer. Zudem haben wir im vergangenen halben Jahr sehr viel lernen können, um mit dem Virus umzugehen. Wie man Infektionen vermeidet, wie man schwerkranke Patienten behandelt.
Damals waren wir unvorbereitet – jetzt wissen wir viel mehr und können viel gezielter gegen das Infektionsgeschehen vorgehen. Dennoch, ich glaube, es hat sich ein gewisser Leichtsinn eingeschlichen. Besonders bei jungen Menschen, die wieder raus wollen, feiern, Party machen.
Die jungen, oft leichtsinnigen Menschen. Sind sie der Grund für den Anstieg der Infektionszahlen?
Stürmer: Eine Zeit lang waren auch viele Reiserückkehrer dafür verantwortlich, gerade während und nach den Sommerferien. Aber die Hauptquelle der Infektionen liegt im Augenblick wieder in unserem Land. Besonders auf privaten Veranstaltungen kommt es zu Ansteckungen, auf Familienfesten, größeren Feiern wie Geburtstage und Hochzeiten. Aber eben auch in den Innenstädten, in Kneipen, in denen sich junge Menschen treffen, ohne dort auf ausreichend Abstand zu achten.
Wenn wir überlegen, wo das Virus damals hergekommen ist – etwa von Aprés-Ski-Partys – und wir vergleichen diese Bilder mit denen von heute, dann ist der Unterschied leider nicht allzu groß. Es ist, als habe man das ein halbes Jahr später schon wieder vergessen. Und das sollte uns zu denken geben.
Die Bar oder Kneipe ist also der Ort, an dem es am häufigsten zu Infektionen kommt?
Stürmer: Ja, denn es wird laut gesprochen, vielleicht sogar gesungen, die Menschen sitzen eng zusammen. Die Virusausscheidung und Aerosolproduktion ist dort also sehr hoch. Darin unterscheiden sich Bars und Kneipen auch etwa von Restaurants. Dort lassen sich die Hygiene- und Abstandsregeln meiner Meinung nach wesentlich besser umsetzen.
Wäre die Konsequenz dann, Bars und Kneipen vollständig zu schließen? Womöglich wieder eine Art Lockdown zu verhängen?
Stürmer: Ich denke nicht, dass es nötig sein wird, in einen zweiten Lockdown zu gehen. Stattdessen müssen sich Bar-Besitzer aber an Auflagen und Verbote halten. Tun sie das nicht, dann müssen sie eben schließen. Das mag hart klingen, meiner Meinung nach ist Konsequenz hier jedoch der einzige richtige Schritt. Es wurden ja nun etwa in Berlin und Frankfurt Sperrstunden erlassen.
Auch das Thema Lüften wird elementar sein, um Ansteckungen über Aerosole zu reduzieren – neben den ohnehin unabdingbaren Hygiene- und Abstandsregeln. Und all das gilt nicht nur für den öffentlichen Bereich. Auch bei privaten Feiern gibt es eine Maximalanzahl, an die wir uns halten müssen.
Wir haben identifiziert, wo die Infektionen herkommen – das sind die privaten und öffentlichen Feiern. Und jetzt liegt es zum einen an den Behörden, diese Maßnahmen durchzusetzen. Zum anderen an jedem einzelnen. Jeder sollte darüber nachdenken, ob er seinen Geburtstag in diesem Jahr nicht auch mal in kleineren Kreisen feiern kann. Sich überlegen, ob die Reise in den Herbstferien wirklich sein muss.
Sie setzen also eher auf die Eigenverantwortung der Menschen, um Infektionen zu vermeiden? Gerade bei Jüngeren lautet der Tenor ja auch häufig, man müsse das Virus „einfach durchmachen“…
Stürmer: Wir kennen das Virus jetzt seit gut zehn Monaten. Wir wissen doch noch gar nicht, ob sich noch Jahre danach Folgeschäden zeigen. Jetzt davon auszugehen, das Virus als junger Mensch „einfach durchzumachen“ und sich deshalb bedenkenlos zu verhalten – das halte ich für falsch.
Zumal ich am eigenen Leib erfahren habe, dass das Virus nicht immer ohne Folgen bleibt. Selbst, bei einem milden Verlauf.
Sie waren selbst infiziert?
Stürmer: Ja, ich war Mitte März mit meiner Familie im Skiurlaub in Tirol. Nein, keine Aprés-Ski-Partys, aber dennoch: Meine Frau, mein Sohn und ich infizierten uns. Zwar hatte ich keineswegs einen schweren Verlauf, bemerkte statt der üblichen Erkältungssymptome eher Gliederschmerzen. Aber: Ich habe während der Infektion meinen Geschmacks- und Geruchssinn komplett verloren.
Auch heute, Monate später ist dieser nicht wieder vollständig zurück. Und das gibt mir schon zu denken. Ich bemerke, das Virus war da, es hat etwas verändert und etwas hinterlassen. Das mag in den kommenden Monaten vergehen, vielleicht werden wir Covid-19 irgendwann als Krankheit sehen, die in vielen, vielen Fällen einfach „durchgemacht“ wird. Aber zum jetzigen Zeitpunkt sollten wir uns darauf nicht verlassen.
Und ja, deshalb setze ich sehr auf die Eigenverantwortung der Menschen. Die Vorschriften und Regeln sind wichtig, sie sind das eine. Aber auf der anderen Seite gibt es auch viele Alltagssituation und Geschehen, die diese vielleicht nicht abdecken. In denen es auf die Vernunft der Menschen ankommt. Uns muss einfach klar sein: Ob jung oder alt – wir sind eine Gesellschaft. Und für die tragen wir die Verantwortung.