Steigende Neuinfektionen So geht Deutschland in den Corona-Winter
28. Oktober 2021Die Zahl der Neuinfektionen steigt, die Kliniken warnen vor einer Überlastung, die Impfkampagne kommt kaum voran: Erneut steht ein harter Corona-Winter bevor. Aber ist Deutschland dafür auch bereit? Die wichtigsten Fragen und Antworten.
Wie ist die Lage?
Die Zahl der Neuinfektionen steigt stark an. Die Sieben-Tage-Inzidenz liegt inzwischen bei 130,2. Vor einer Woche lag sie noch bei 85,6. Gleichzeitig wächst in den Krankenhäusern die Sorge vor einer Überlastung. Derzeit liegen laut Intensivregister rund 1800 Menschen auf der Intensivstation und knapp 4300 Patienten auf der Normalstation. Zum Vergleich: Am Höhepunkt der Pandemie im Januar wurden mehr als 5700 Corona-Erkrankte intensivmedizinisch behandelt.
Zahl der Corona-Infektionen schnellt in die Höhe
Die Deutsche Krankenhausgesellschaft spricht von einer „kritischen Situation der Pandemie“. „Wenn diese Entwicklung anhält, haben wir schon in zwei Wochen wieder 3000 Patienten auf Intensivstation“, so der Vorstandsvorsitzende Gerald Gaß. Nach Einschätzung des Weltärztebundes arbeitet das Personal der Intensivstationen am Limit.
Wie groß ist die Impfbereitschaft?
Inzwischen sind gut 66 Prozent der Menschen in Deutschland vollständig geimpft. Das zeigt trotz der Neuinfektionen Wirkung: „Bei hoher Durchimpfung der Bevölkerung gibt es sehr viel mehr milde Verläufe – die müssen nicht ins Krankenhaus, aber viele Ungeimpfte erkranken nach wie vor schwer“, sagt der Vorsitzende des Weltärztebundes, Frank Ulrich Montgomery, der „Augsburger Allgemeinen“. Wer sich jetzt nicht impfen lasse, obwohl er es machen könnte, riskiere sein Leben und das seiner Mitmenschen. Montgomery plädiert dafür, alles zu versuchen, um die Impfraten zu erhöhen.
Eine Studie im Auftrag des Gesundheitsministeriums zeigt, dass es sehr unterschiedliche Gründe gibt, warum sich Menschen nicht gegen das Coronavirus impfen lassen. Zwei Gründe werden aber von Nicht-Geimpften Menschen besonders häufig genannt: Die meisten von ihnen glauben, dass die Impfstoffe nicht genügend erprobt sind – das geben rund drei Viertel an. Sie befürchten Langzeitfolgen. Zum andere zweifeln viele daran, dass die Impfstoffe wirken. Auch der Druck von außen spiele für Ungeimpfte eine Rolle.
Glaubt man den Antworten der Befragten, könnte ein neuer Impfstoff, der auf einem klassischen Wirkprinzip beruht, ihre Impfbereitschaft erhöhen. Mehr Druck, etwa durch 2G-Regelungen oder dadurch, dass Corona-Tests selbst bezahlt werden müssen, wird hingegen laut Umfrage nicht dazu führen, dass die Impfbereitschaft steigt.
Was ist mit den Booster-Impfungen?
Die Impfungen verlieren mit der Dauer an Wirksamkeit – und nur wenige haben bisher eine zusätzliche Auffrischungsimpfung (Booster) erhalten. Die Ständige Impfkommission empfiehlt Auffrischungsimpfungen unter anderem für Menschen ab 70 Jahre und Menschen mit einem geschwächten Immunsystem. Auch für Pflegepersonal und medizinisches Personal mit direktem Kontakt zu Patienten sowie Menschen, die den Impfstoff von Johnson & Johnson bekommen haben wird sie empfohlen.
Mediziner, Patientenschützer und Politiker fordern aber mehr Tempo bei solchen Impfverstärkern. Die Deutsche Stiftung Patientenschutz beklagt einen „schleppenden Verlauf“. Nach gut drei Monaten hätten nur zwölf Prozent der über 70-Jährigen ein drittes Impfangebot erhalten, sagte Vorstand Eugen Brysch der „Neuen Osnabrücker Zeitung“.
Wann könnten auch Kinder geimpft werden?
Gerade bei jüngeren Altersgruppen steigt die Inzidenz. Kinderärzte setzen deshalb auf zügige Covid-19-Impfungen für unter Zwölfjährige. Die europäische Arzneimittelbehörde EMA will noch vor Weihnachten entscheiden, ob sie eine Empfehlung für Corona-Impfungen für Kinder zwischen fünf und elf Jahren ausspricht. „Wir hoffen darauf, dass in den nächsten Wochen eine europäische Zulassung des BioNTech-Impfstoffs für die Altersgruppe der Fünf- bis Elfjährigen kommt, die dann auch in Deutschland übernommen wird“, sagte der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin, Jörg Dötsch, den Zeitungen der Funke Mediengruppe. Corona-Impfungen wären in dieser Altersgruppe damit auch ohne eine ausdrückliche Empfehlung der Ständigen Impfkommission (STIKO) „rechtlich abgesichert“. Die Empfehlung könnte dann nach genauer Prüfung der Daten zu Nebenwirkungen in den Wochen darauf folgen.
Bereits am Dienstag hatte sich ein Beratergremium der US-Arzneimittelbehörde FDA für eine Notfallzulassung des Corona-Impfstoffes von BioNTech/Pfizer für Kinder zwischen fünf und elf Jahren ausgesprochen. Die Empfehlung ist nicht bindend, die FDA folgt den Fachleuten aber in der Regel. Eine endgültige Entscheidung der FDA wird noch in dieser Woche erwartet.
Warum soll trotz dieser Entwicklung der Status der „epidemischen Lage“ auslaufen?
Die mögliche Ampel-Koalition SPD, Grüne und FDP sieht die Voraussetzungen einer „epidemischen Lage“ nicht mehr gegeben. Laut Gesetz liegt sie vor, „wenn eine ernsthafte Gefahr für die öffentliche Gesundheit in der gesamten Bundesrepublik“ besteht. Allerdings heißt das nicht, dass es keine Einschränkungen mehr geben soll. Im Winter brauche es Maßnahmen, betont FDP-Fraktionsgeschäftsführer Marco Buschmann. Niemand behaupte, die Gefahr sei schon vorbei. „Dieses Signal senden wir ausdrücklich nicht.“
Warum ist das wichtig?
Für die Länder und Behörden ist das Infektionsschutzgesetz die Rechtsgrundlage für Beschränkungen, die sie vor Ort umsetzen. Das Gesetz listet dabei eine ganze Palette möglicher Maßnahmen auf. Die sind aber bisher daran geknüpft, dass der Bundestag eine „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ festgestellt hat. Das geschah erstmals im März 2020 und wurde mehrmals bestätigt, zuletzt Ende August. Automatisch vorgesehen ist, dass diese Sonderlage ohne neuen Bundestagsbeschluss nach drei Monaten endet. Und genau so soll es nach dem Willen von SPD, Grünen und FDP „mit Ablauf des 24. November 2021“ auch kommen.
Welche Neuregelung soll stattdessen kommen?
Bis zum Frühlingsanfang, den 20. März 2022, soll noch eine Übergangsregelung gelten – ohne die „epidemische Lage“ als Bedingung. Das sind etwa Vorgaben zu Maskenpflicht und Zugangsregeln für Geimpfte, Genesene und Getestete (3G), Hygienekonzepte, Kontaktdaten-Erfassung, Auflagen für Schulen. Bisher ist die Liste länger und enthält etwa auch Ausgangsbeschränkungen oder Verbote touristischer Reisen. Den Ländern stehe damit weiter ein „Instrumentenkasten“ zur Verfügung, sagte Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt – aber nicht mehr so pauschal und tiefgreifend.
Was planen die Ampel-Parteien noch?
Unabhängig vom Status der Sonderlage sollen künftig auch andere Corona-Regeln bis 20. März verlängert werden: So sollen Beschäftigte in Kitas, Schulen und Pflegeheimen weiter vom Arbeitgeber gefragt werden können, ob sie geimpft sind. Eltern sollen weiter Anspruch auf Entschädigung für Verdienstausfälle haben, wenn sie sich wegen geschlossener Betreuungseinrichtungen um ihre Kinder kümmern. Auch der einfachere Zugang zur Grundsicherung soll bis 20. März verlängert werden. Das in der Krise geschaffene Intensivbetten-Register wollen SPD, Grüne und FDP dauerhaft etablieren und erweitern. Verabredet wurde außerdem ein Kreis von Praktikern, der Wege zu deutlich mehr Tempo bei den Corona-Impfungen finden soll.
Wie geht es weiter?
Die Umsetzung ist im Schwebezustand so kurz nach der Bundestagswahl nicht ganz leicht. Vorerst gibt es ein zweiseitiges Eckpunktepapier. Das Gesundheitsministerium sicherte schon zu, beim Formulieren eines Gesetzentwurfs zu helfen. SPD, Grüne und FDP peilen an, dass sich der Bundestag am 10. oder 11. November damit befasst. Angestrebt werden auch Ausschussberatungen. Da es noch keine Fachausschüsse gibt, könnte dies ein Fall für einen übergreifenden „Hauptausschuss“ des Bundestags sein. Nötig wird außerdem auch eine Sondersitzung des Bundesrats, der regulär erst am 26. November das nächste Mal tagt.