Kann Merkel bundesweiten Corona-Lockdown einführen? Das sagen Verfassungsrechtler

25. Oktober 2020 Aus Von mvp-web

Am Freitag lagen die Corona-Neuinfektionen in Deutschland zum zweiten Mal in Folge bei mehr als 12.000. Erneut wird deshalb über Lockdowns diskutiert. Doch wäre ein solch flächendeckender in der Bundesrepublik überhaupt rechtens?

Der Vorsitzende des Weltärztebunds hält in Deutschland einen Lockdown für nötig, wenn die Schwelle von 20.000 Neuinfektionen am Tag überschritten wird. Am Freitagmorgen hatte das Robert-Koch-Institut das zweite Mal in Folge mehr als 12.000 Neuinfektionen in Deutschland gemeldet.

Noch gibt es in Deutschland nur Lockdowns an lokalen Hotspots wie im bayerischen Landkreis Berchtesgadener Land. Dort sind wegen der hohen Infektionszahlen seit Dienstagmittag für 14 Tage Schulen, Kindertagesstätten und Gaststätten geschlossen, Einwohner dürfen ihre Wohnung nur noch mit triftigem Grund verlassen.

Was ist aber, wenn ganz Deutschland zum Hotspot wird? Was ist, wenn die Bundesregierung der Ansicht ist, es brauche einen bundesweiten Lockdown?

Bundesweiter Lockdown: Infektionsschutzgesetz müsste geändert werden

Rein rechtlich wäre es unter gewissen Umständen möglich, sagt der Berliner Europa- und Verfassungsrechtler Ulrich Karpenstein im Gespräch mit FOCUS Online. „Möchte der Bund einheitliche Maßnahmen wie zum Beispiel Sperrstunden oder Ausgangsbeschränkungen verhängen, müssten Bundestag und Bundesrat dafür das Infektionsschutzgesetz ändern.“

Auch der Münchner Verfassungsrechtler Walther Michl sieht diese Möglichkeit. „Prinzipiell müsste das Infektionsschutzgesetz geändert werden, damit entweder die Bundesregierung als Ganzes oder ein einzelner Bundesminister Rechtsverordnungen erlassen kann.“ Diese Verordnungen könnten dann einheitliche Maßnahmen für ganz Deutschland vorgeben.

Die Verordnung der Corona-Maßnahmen begründet sich in Deutschland in Paragraf 28 des Infektionsschutzgesetzes. Ausgeführt werden die jeweiligen Verordnungen aber nach Artikel 83 des Grundgesetzes von den einzelnen Ländern. In dem Artikel heißt es: „Die Länder führen die Bundesgesetze als eigene Angelegenheit aus, soweit dieses Grundgesetz nichts anderes bestimmt oder zulässt.“ Das wird auch künftig so bleiben, wenn das Grundgesetz nicht geändert werden soll – wovon nicht auszugehen ist.

„Bundesländer würden sich nicht darauf einlassen“

Das Infektionsschutzgesetz könne man in wenigen Wochen ändern, meint der Münchner Verfassungsrechtler Michl – „wenn man sich auf die Hinterbeine stellt“. Doch dafür braucht die Bundesregierung die Zustimmung des Bundesrats. Michl geht nicht davon aus, dass der politische Wille in den Ländern derzeit vorhanden ist. Schließlich müssten sie damit erheblich Macht und Einfluss abgeben. Deshalb hält Michl eine Änderung des Gesetzes im Augenblick nicht für wahrscheinlich.

Auch der Berliner Verfassungsrechtler Karpenstein kann sich nicht vorstellen, dass das Infektionsschutzgesetz in dieser Hinsicht überarbeitet wird. „Die Bundesländer würden sich nicht darauf einlassen, weitere Kompetenzen abzugeben“, so der Experte.

Dennoch würde das Infektionsschutzgesetz eine Überarbeitung in Hinsicht auf klarere gesetzliche Grundlagen vertragen, meint er. Denn: „Viele der auf Grundlage von Paragraf 28 des Infektionsschutzgesetzes angeordneten Maßnahmen gehen darüber hinaus, was diese Vorschrift und das Grundgesetz erlauben.“

„Viele Maßnahmen gehen darüber hinaus, was Grundgesetz erlaubt“

Zu Beginn der Corona-Krise haben Karpenstein und Kollegen befürchtet, der deutsche Föderalismus sei der Krise nicht gewachsen und werde schweren Schaden nehmen. Inzwischen sei er da optimistischer. „Deutschland ist ein großes Land mit einem sehr unterschiedlichen Infektionsgeschehen. Aus diesem Grund ergibt es Sinn, dass regional unterschiedlich entschieden und dies dann auch regional verantwortet wird.“

Außerdem habe sich am Beispiel Frankreich gezeigt, so Karpenstein, dass eine zentralisierte Pandemiebekämpfung nicht per se von Vorteil sein muss. In Frankreich gilt, um nur ein Beispiel zu nennen, die nächtliche Ausgangssperre für das ganze Land – selbst für Regionen, die so gut wie nicht betroffen sind.

Spahn hat eine weitere Möglichkeit

Eine Möglichkeit hat die Bundesregierung aber dennoch, bundesweite Corona-Maßnahmen zu verhängen. Da der Bundestag wiederholt eine sogenannte ‚Epidemische Lage von nationaler Tragweite‘ festgestellt hat, darf der Bundesgesundheitsminister viele Maßnahmen sogar gegen den Willen der Bundesländer erlassen. Dazu gehören etwa die Reisebeschränkungen, die Gesundheitsminister Spahn im März verordnet hatte. Und auch Maßnahmen in Bezug auf Ärzte und Krankenhäuser werden durch die ‚Epidemische Lage von nationaler Tragweite‘ getragen.

Laut Ulrich Karpenstein gehe diese Regelung aber sehr weit und werde sogar überwiegend als verfassungswidrig erachtet. Der Experte meint: „Man kann dem Bundesgesundheitsminister nur raten, davon sehr sparsam Gebrauch zu machen.“