Umstrittener Plan von Merkel und Spahn: Hier kracht es beim nächsten Corona-Gipfel

12. November 2020 Aus Von mvp-web
Hat Deutschland die zweite Corona-Welle im Griff, oder sind weitere Einschränkungen notwendig? Darüber wollen Kanzlerin und Länderchefs am Montag beraten. Experten und verantwortliche Politiker klingen nur wenig optimistisch.

Am Montag steigt eines der vielleicht wichtigsten Treffen der letzten Monate. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) kommt mit den Ministerpräsidenten der 16 Bundesländer zusammen, um das weitere Vorgehen in der Corona-Krise zu beraten.

Ein Termin, der richtungsweisend sein könnte. Denn am Montag soll auch ein Zwischenfazit gezogen werden. Ende Oktober hatten Bund und Länder schärfere Maßnahmen beschlossen, die zunächst für den ganzen November gelten sollten. Die Idee dahinter: Dieser „Wellenbrecher“ soll die Zahl der Neuinfektionen pro Tag wieder signifikant nach unten drücken, so dass das Weihnachtsfest ohne größere Einschränkungen vonstatten gehen kann.

Hat der „Wellenbrecher“ Erfolg? Können die Maßnahmen ab dem 1. Dezember wieder gelockert oder ganz aufgehoben werden? Oder sind sogar Verschärfungen nötig? All das wird die Kanzlerin mit den Ministerpräsidenten der Länder am Montag besprechen. Aber auch weitere Themen sollen noch auf der Agenda landen. FOCUS Online gibt den Überblick.

 

1) Lockern oder Schärfen?

Der Druck auf die Entscheidungsträger ist groß, und er kommt von zwei Seiten. Zum einen drängen Gastronomiebetriebe, Kultureinrichtungen und Hotels darauf, die Beschränkungen so bald wie möglich wieder aufzuheben. „Viele Unternehmer der Hotellerie und Gastronomie schwanken zwischen Wut und Verzweiflung“, sagte der Hauptgeschäftsführer des einflussreichen Verbandes „Die Familienunternehmer“, Albrecht von Hagen, schon Ende Oktober, als die Maßnahmen beschlossen worden waren. Der Lobbyist fürchtet einen „Kahlschlag ganzer Branchen“.

Auf der anderen Seite macht auch das Virus gehörigen Druck, und im Gegensatz zu den Wirtschaftsbossen lässt eine Pandemie nicht mit sich diskutieren. Am Mittwoch lag die Zahl der Neuinfektionen laut Robert-Koch-Institut (RKI) bei 21.866, mehr als 200 Menschen starben binnen eines Tages. Im gesamten Bundesgebiet gibt es nur noch fünf Landkreise, die kein sogenannter „Hotspot“ sind. Und die Intensivbetten in den Krankenhäusern füllen sich stetig, wenn auch langsamer als befürchtet.

Klar ist: Mit der Wirkung des „Wellenbrechers“ sind Bund und Länder noch nicht vollends zufrieden. Es sind aber leichte Fortschritte zu verzeichnen. „Die Zahlen, die wir jetzt haben, reichen bei weitem nicht aus“, sagte Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) am Mittwoch im ARD-„Morgenmagazin“. „Wir haben maximal eine leichte Seitwärtsbewegung erreicht.“ Man sehe nun, „wie es sich abflacht“, sagte Kanzlerin Merkel wiederum am Donnerstag bei einer Online-Diskussion mit jungen Azubis. „Jetzt müssen wir runterkommen.“ Ziel sei es, auf die Rate von bis zu 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner in einer Woche zu kommen.

Auch unter Experten herrscht noch große Zurückhaltung, was das Thema Lockerungen angeht. „Es wird sehr schwierig, diesen Wert zu erreichen“, sagte RKI-Chef Lothar Wieler bei einer Pressekonferenz am Donnerstag zu Merkels Rechnung von 50 Neuinfektionen. Die Wirkung der Beschränkungen lasse sich jetzt noch nicht bewerten.

Das sieht auch die Bundesregierung so. Dem Vernehmen nach will die Regierung die Entwicklung der nächsten Tage abwarten, bis sie sich zu einer Position entscheidet – die neuen Beschränkungen sind schließlich erst seit etwas mehr als einer Woche in Kraft. Doch nach einer großen Lockerungswelle klingt das alles nicht.

Das dürfte Bund und Ländern ordentlichen Gegenwind einbringen. Das größte Problem: Die von den Einschränkungen betroffenen Branchen fühlen sich unfair behandelt, weil gar nicht erwiesen ist, dass sie einer der Treiber des Infektionsgeschehens sind. Doch eben weil man so wenig über das Geschehen weiß, lässt sich eine plötzliche Lockerung auch nur schwer rechtfertigen.

Weil aber erste kleine Fortschritte zu erkennen sind, gilt es als wahrscheinlich, dass weitere einschneidende Verschärfungen ebenfalls nicht beschlossen werden. Die realistischste Variante ist daher, dass Bund und Länder die Entscheidung noch einmal aufschieben – etwa auf Ende November, wenn die Datenlage klarer sein wird. Auch wenn das für viele enttäuschte Reaktionen sorgen dürfte und der Druck weiter steigen wird.

2) Was ist mit den Schulen?

Eben weil die Datenlage noch so unsicher ist, gibt es noch keine genaue Agenda für den Montag. Ein Thema ist aber den Bundesländern besonders wichtig und dürfte daher ganz oben auf der Tagesordnung stehen: Die Lage an den Schulen. Für die Bildungseinrichtungen in Deutschland ist die Pandemie eine noch nie dagewesene Herausforderung. Mehr als 300.000 Schülerinnen und Schüler sowie 30.000 Lehrerinnen und Lehrer befinden sich nach Angabe des Deutschen Lehrerverbandes derzeit in Quarantäne. Verbandspräsident Heinz-Peter Meidinger beklagte in der „Bild“-Zeitung einen „Salami-Lockdown“, die Politik habe sich zurückgezogen.

Die Frage ist nun also, wie sich dieser „Salami-Lockdown“ verhindern lässt. Verbandspräsident Meidinger pochte am Mittwoch in der „Passauer Neuen Presse“ auf eine Verschärfung der Hygiene-Vorschriften, die zuletzt sukzessive gelockert worden seien. „Die Schulen sollen auf Biegen und Brechen offen bleiben“, kritisierte Meidinger.

Tatsächlich hat sich nichts geändert an der erklärten Position der Bundesregierung, dass Schulen und Kitas geöffnet bleiben sollen. Die Situation aus dem Frühjahr, die für berufstätige Eltern wie auch für die Kinder selbst eine große Belastung war, soll sich nicht wiederholen.

Mindestens zwei Konzepte werden am Montag laut Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) auf jeden Fall zur Sprache kommen: Zum einen der Vorschlag von Bildungsministerin Anja Karliczek (CDU), die Maskenpflicht an Schulen stark auszuweiten. Widerstand gegen die Idee gibt es nur wenig, auch von Expertenseite. Der Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte, Thomas Fischbach, sagte am Donnerstag der „Welt“, grundsätzlich sei für gesunde Kinder ab einem Alter von zwei Jahren kein Gesundheitsrisiko mit einer Mund-Nasen-Bedeckung verbunden. „Die Beschwerden, von denen wir hören, sind ein subjektives Unwohlsein – das wir als Erwachsene auch haben. Aber sie sind nicht gefährlich oder gar lebensbedrohlich.“

Und zum anderen werden Bund und Länder laut Spahn über einen Vorschlag aus Nordrhein-Westfalen diskutieren: Dort hatte die Landesregierung beschlossen, Schüler und Lehrer früher in die Weihnachtsferien zu entlassen, um kurz vor dem Weihnachtsfest die Zahl der Kontakte zu minimieren. Lehrerverbände äußerten sich kritisch zur Entscheidung. Die Entscheidung sei verfrüht, die fehlenden zwei Schultage nur schwer zu kompensieren, alleinerziehende Elternteile werden vor Probleme gestellt, lautete der Tenor. „Diese Idee ist nicht dienlich“, sagte die Vorsitzende des Philologenverbands, Sabine Mistler, am Donnerstag der „Rheinischen Post“.

Gesundheitsminister Spahn nannte den Beschluss wiederum einen „pragmatischen Ansatz“. Darüber müsse jedoch jedes Bundesland selbst entscheiden. Die monatelange Schließung der Schulen und Kitas im Frühjahr nannte Spahn eine „harte Belastung für alle“. Mit einer zeitlich begrenzten Maßnahme, „um die Dinge zu entschleunigen, um Infektionsherde zu erkennen“, könnten alle besser umgehen.

Insgesamt warnen Bund, Länder und eine große Zahl von Verbänden jedoch vor Alarmismus, was die Lage an den Schulen angeht. Die Schock-Zahl des Lehrerverbandes mit den 300.000 Schülern in Quarantäne sei „aus der Luft gegriffen“, kritisierte der Vorsitzende der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft, Marlis Tepe, am Donnerstag gegenüber dem „Redaktionsnetzwerk Deutschland“. Und der hessische Kultusminister Alexander Lorz (CDU) sagte am Mittwochabend im ZDF-„Heute Journal“, in seinem Bundesland gingen 95 Prozent der Schüler weiter regulär zur Schule. „Das ist unter den Bedingungen, die wir im Moment in dieser Pandemie vorfinden, eine große Leistung.“

3. Der Streit um den Inzidenzwert

Der dritte große Streitpunkt am Montag dürfte ein Thema sein, das eher technisch klingt, in der Praxis aber von hoher Relevanz ist: Der sogenannte Inzidenzwert. Die Bundesregierung will das mächtige Infektionsschutzgesetz um eine Art „Corona-Sonderparagrafen“ ergänzen, der genau festlegt, ab welchem Punkt gewisse Maßnahmen greifen sollen – etwa Kontaktbeschränkungen, die Maskenpflicht oder auch Schließungen von Geschäften.

Der Knackpunkt: Union und SPD wollen diese Maßnahmen einzig am Inzidenzwert ausrichten, um schnelle Entscheidungen zu ermöglichen. Sprich: Wenn es in einem Landkreis mehr als x Neuinfektionen auf 100.000 Einwohner gibt, greifen die Maßnahmen y und z. Das stößt jedoch auf Widerstand bei den Bundesländern. Sie fordern, dass noch weitere Faktoren im Gesetz festgeschrieben werden und nicht nur der bloße Inzidenzwert. Vor allem die Länder Hamburg und Hessen wehren sich angeblich vehement gegen das Vorgehen der Bundesregierung, berichtete die „Bild“-Zeitung am Mittwoch.

Einerseits fürchten die Länder, dass die Maßnahmen vor Gericht keinen Bestand haben könnten, wenn sie sich nur am Inzidenzwert ausrichten. Und andererseits erzähle der Inzidenzwert nicht die ganze Geschichte: Was ist zum Beispiel, wenn der hohe Wert in einem Landkreis durch einen lokal begrenzten Ausbruch zustande kommt, etwa in einem Flüchtlingsheim oder einer Pflegeeinrichtung? Ist es dann fair, wenn der Rest der Einwohner ebenfalls neue Ausgangsbeschränkungen hinnehmen muss?

Kanzleramt und Gesundheitsministerium, das den Entwurf ausgearbeitet hat, wollen an den Plänen festhalten, doch auch unter Experten gilt der Inzidenzwert nur als bedingt aussagekräftig. „Einen einzelnen Grenzwert ausschließlich zu beobachten, ist nicht der Weg, den wir beschreiten“, sagte Ute Rexroth, Infektionsepidemiologin am Robert-Koch-Institut, bei der RKI-Pressekonferenz am Donnerstag. Der Inzidenzwert sei zwar sehr wichtig, weil er Orientierung und Vergleichbarkeit zwischen den verschiedenen Regionen biete. Aber sich allein darauf zu versteifen, sei nicht zielführend.

Am Montag gibt es also viel zu tun für die Vertreter von Bund und Ländern – ob es jedoch auch konkrete Ergebnisse geben wird, steht in den Sternen. Doch der Druck ist gigantisch, auch was das Finden der richtigen Balance angeht. Nach einer Dauerumfrage des Instituts „Civey“ haben derzeit 45 Prozent der Deutschen Angst, sich mit dem Coronavirus zu infizieren. Gleichzeitig fürchten sich aber 37 Prozent vor sozialer Isolation und 33 Prozent der Deutschen haben Angst vor Bewegungsmangel. Vor allem der Prozentsatz der Deutschen, die soziale Isolation fürchten, steigt seit September beständig: Da lag der Wert noch bei 25 Prozent.

Auch die Fortschritte bei der Entwicklung eines Impfstoffes geben noch keinen Grund zur Entwarnung. Kanzlerin Merkel jedenfalls rechnet damit, dass die zweite Corona-Welle das Land noch länger beschäftigt. Man müsse davon ausgehen, dass die zweite Welle härter sei als die erste, sagte Merkel am Mittwoch bei einer Veranstaltung der „Wirtschaftsweisen“. Die zweite Welle falle in eine schlechtere Jahreszeit, nämlich in die Wintermonate. „Das heißt, sie wird uns noch den ganzen Winter beschäftigen“.