Europamagazin Bombardierte ukrainische Stadt „In Odessa haben wir die Russen geliebt“

Europamagazin Bombardierte ukrainische Stadt „In Odessa haben wir die Russen geliebt“

10. April 2022 Aus Von ...Linda Gerke
Wie kaum eine andere Stadt war Odessa vor dem Krieg prorussisch geprägt. Seit Putins Angriff ist alles anders: In der Stadt am Schwarzen Meer wenden sich auch die Russischstämmigen von Russland ab.
Von Oliver Mayer-Rüth, ARD, zurzeit Odessa

Große schwarze Rauchsäulen ragen in den Himmel über Odessa. Mehrere Raketen schlagen am Morgen gegen sechs Uhr in Treibstofftanks und Ölsilos des Hafens ein. Die Explosionen sind in der ganzen Stadt zu hören und reißen viele Menschen aus dem Bett.

Am vergangenen Sonntag kommt der russische Angriffskrieg plötzlich mit großer Wucht in die architektonisch einzigartige Kunst- und Kulturstadt am Schwarzen Meer. Die vom russischen Militär abgefeuerten Iskender-Raketen treffen keine Wohnsiedlungen. Dennoch nehmen Odessas Bewohner die Einschläge als Bedrohung von Leib und Leben wahr.

Julija Angelowa führt mit ihrer Mutter das kleine Restaurant „U Angelowitsch“, ein Ort von verspielter Eleganz. Im Eingangsbereich steht ein großer Käfig mit einem Papagei, der zu Begrüßung schreit, an den Wänden hängen bunte Bilder, die Band Kommuna Lux spielt „Odessa Gangsta Folk“. Bis etwa 20.30 Uhr darf das „U Angelowitsch“ geöffnet bleiben, denn eine halbe Stunde später beginnt die Sperrstunde.

Polizei und Militär kontrollieren in Odessa nachts besonders streng. In den ersten Tagen nach Kriegsbeginn hatten sich russische Saboteure mit ukrainischen Sicherheitskräften in der Innenstadt Feuergefechte geliefert.

Das Gefühl der Verbundenheit ist verschwunden

Odessa ist so russisch geprägt wie kaum eine andere Stadt in der Ukraine. Die Menschen waren hier immer positiv gegenüber Russland eingestellt. Erst nachdem Putin 2014 die Krim annektierte, begann sich diese Stimmung zu ändern. Doch selbst Russlands fortwährende Unterstützung der Separatisten im Donbass brachte noch nicht alle Bewohner in Odessa dazu, das Gefühl der Verbundenheit mit Russland zu verlieren.

Die Angelows kochen russische Küche, sprechen Russisch. Tochter Julija sagt: „Ich bin russisch. Ich bin zwar in Odessa geboren, aber mein Großvater kam aus Zentralrussland hierher. Meine Familie ist russisch. Hier in Odessa haben wir die Russen geliebt.“ Diese seien im Sommer zum Urlaub nach Odessa gekommen. Stars aus der russischen Musik- und Filmszene waren gern gesehene Gäste.

Doch spätestens seit den Ereignissen von Butscha sei alles anders. Die Bilder des Massakers bei Kiew entsetzen alle im Land. Nun hasse die Ukraine Russland endgültig, sagt die Wirtin. Sie wolle nichts mehr mit dem Land ihrer Vorväter zu tun haben. Ihrer Mutter gehe es ähnlich. Das Grab des Vaters in Moskau werden sie wohl niemals mehr besuchen.

Tiefgreifender Stimmungswechsel

Petro Obuchow ist einer der vielen freiwilligen Helfer in der Zentrale zur Verteilung von Hilfsgütern an Flüchtlinge. Auch Obuchow sagt, er sei russischer Abstammung, spreche die meiste Zeit Russisch und nicht Ukrainisch. Vor Beginn des russischen Angriffskriegs hätten sich in Umfragen immerhin 38 Prozent der Bewohner von Odessa für eine Wirtschaftsunion mit Russland ausgesprochen. Damals habe es noch Hoffnung gegeben, erklärt der Stadtrat, der für die Partei Europäische Solidarität aktiv ist.

Jetzt wollen selbst in Odessa 70 bis 80 Prozent der Bevölkerung den schnellen Beitritt in die EU. Und auch eine deutliche Mehrheit sei nun für die Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO, sagt Obuchow.

Der Patriotismus wird angeheizt

Putins Armee hat mit ihren Bomben und Granaten den Patriotismus in der Ukraine angeheizt – auch bei der großen Gruppe, die Russisch als ihre Muttersprache angibt. Putins Behauptung, man müsse die Ukraine von Faschisten befreien, löst auch bei ihnen nur noch Empörung aus.

Es gehe dem russischen Präsidenten nur darum, den größten Hafen der Ukraine zu besetzen, um so das Land in ein wirtschaftliches Chaos zu treiben, heißt es nun in Odessas Straßen.

Über die Vergangenheit lieber schweigen

Auch Olena Wododyuk ist Stadträtin und engagiert sich seit Kriegsbeginn in der Flüchtlingshilfe. Auf dem Handy zeigt sie uns Videos von Babynahrung und Windeln, die sie für Menschen aus der umkämpften Stadt Mykolajiw organisiert hat. Wododyuk gehörte früher zur Partei Oppositionelle Plattform für das Leben. Diese gilt als Putin- und russlandfreundlich. Über die Gründe für die Mitgliedschaft möchte sie lieber nicht reden.

Nicht mal ein Prozent der Bewohner der Stadt seien noch prorussisch, sagt Wododyuk. Früher habe sie sich für Russisch als zweite Amtssprache eingesetzt. Das sei nun vorbei. Seit Kriegsbeginn würden sich viele für Ukrainisch-Kurse anmelden, erklärt die Stadträtin. Das sei ein klares Zeichen für den Wandel in der Gesellschaft.

Mit Marschflugkörpern, Granaten und Gräueltaten in besetzten Gebieten haben Putin und seine Armee eine tiefe Kluft zwischen die russischstämmigen Ukrainer und das Land ihrer Vorfahren gerissen. In Odessa glaubt nun kaum noch jemand, dass die tiefe Verletzung durch Russland eines Tages wieder heilen kann.