„Nach Weihnachten droht Lockdown Nummer 3“: Virologe kritisiert Regierungspläne
27. November 2020Geschlossene Restaurants, eine verschärfte Maskenpflicht und weniger Kontakte – all das für ein bisschen mehr Freiheit an Weihnachten und Silvester? Virologe Martin Stürmer sieht die Pläne der Regierung kritisch und erklärt, wie Sie mit möglichst geringem Risiko feiern können.
Weihnachten – die große Motivation, die Corona-Maßnahmen durchzuhalten. Die Rechtfertigung, um sie noch einmal zu verschärfen. Am Mittwoch beschlossen Bund und Länder ein weiteres Mal strengere Regeln. Zwischen Weihnachten und Neujahr sollen dafür dann wieder mehr Kontakte möglich sein, es dürfen wieder mehr Haushalte zusammenkommen, Feiern mit bis zu zehn Leuten sind erlaubt.
Virologe Martin Stürmer sieht das kritisch. Im Gespräch mit FOCUS Online erklärt er, welches Risiko wir mit dem Weihnachtsplan eingehen und warum wir seiner Meinung nach schon wesentlich früher härter durchgreifen hätten müssen.
Martin Stürmer: Das war mehr als nötig. Nur so können wir die Kontrolle über die Infektionszahlen zurückgewinnen – die haben wir ja mittlerweile offensichtlich verloren. Durch die bisherigen Maßnahmen ist es zumindest gelungen, den Aufwärtstrend der Neuinfektionen zu stoppen. Momentan erleben wir eine Pendelbewegung, die Zahlen stagnieren ungefähr auf dem gleichen Niveau.
Allerdings ist dieses Niveau noch immer sehr, sehr hoch. Und das bedeutet: Die bisherigen Maßnahmen waren gut – haben aber noch lange nicht ausgereicht.
Zur Person
Künftig gilt etwa eine strengere Begrenzung für private Zusammenkünfte, auch Personenbeschränkungen für den Einzelhandel gibt es. Halten Sie diese Regeln für sinnvoll?
Stürmer: Das große Ziel, das hinter all diesen Maßnahmen steht, ist: Kontakte zu verringern. Das Problem ist aber, dass wir im Augenblick nicht genau sagen können, wo die Ansteckungen passieren. Deshalb ist es wichtig, grundsätzlich alle Begegnungen, und damit das Risiko einer Infektion zu reduzieren. Da viele dieser Maßnahmen dazu beitragen – ja, auf jeden Fall. Das ist sinnvoll. Aber es gibt auch Punkte, für die hätte ich mir mehr Beachtung gewünscht.
Welche sind das?
Stürmer: Etwa die Situation im öffentlichen Nahverkehr. Zwar gibt es immerhin Pläne, mehr Abstand im Reiseverkehr der deutschen Bahn zu ermöglichen. Das reicht aber nicht aus. Denken Sie beispielsweise an Schulbusse. Diese sind häufig vollgestopft, die Kinder sitzen eng beieinander. Das gleiche gilt für öffentliche Busse und Bahnen. Dort kann es viel zu leicht zu Ansteckungen kommen – und das kam mir in der Diskussion zu kurz. Auch für Weihnachten hätte ich mir andere Maßnahmen gewünscht.
Halten Sie die Lockerungen über die Weihachtstage für zu unvorsichtig?
Stürmer: Allerdings. Indem wir über die Weihnachtstage mehr Begegnungen zulassen, indem wir diese Tage so entspannt angehen lassen, gehen wir ein hohes Risiko ein. Denn bislang haben wir ja gar keine Grundlage dafür, uns zu entspannen. Im Augenblick schränken wir die Kontakte ein, weil wir wissen, dass sie das Infektionsgeschehen vorantreiben – und dann lassen wir sie eine Woche lang zu? Da könnte danach das böse Erwachen drohen.
Ein böses Erwachen – werden wir also wieder einen Anstieg der Neuinfektionen sehen?
Stürmer: Genau, durch die Familienzusammenkünfte drohen erneut Superspreadingevents. Und das Gefährliche daran ist: Dadurch bringen wir viele Neuinfektionen in die ältere Bevölkerung. Wir riskieren, Risikogruppen zu infizieren.
Natürlich, da gibt es Appelle, die Besuche möglichst gering zu halten. Aber dennoch wird es sicher Menschen geben, die alles ausnutzen und ausschöpfen werden, was möglich ist. Und genau das ist mein Kritikpunkt: Mit diesen Regeln ist es möglich, an neun verschiedenen Tagen mehrmals zehn verschiedene Menschen zu treffen. Und das ist gefährlich.
Wenn die Zahlen im Januar also wieder ansteigen – was passiert dann? Droht dann Lockdown Nummer Drei?
Stürmer: Das ist meine Befürchtung. Der „Lockdown Light“ ist mittlerweile eher ein „Lockdown medium light“. Wir ziehen die Stellschrauben ein wenig fester, lockern sie an Weihnachten und Neujahr. Womöglich aber nur, um sie dann im Januar wieder fest anziehen zu müssen. Diese leichte Lockdown-Variante mag für manche vielleicht einfacher zu ertragen sein – doch sie zieht sich eben auch viel länger hin. Gerade für die Gastronomie ist das hart.
Was wäre Ihr Alternativvorschlag?
Stürmer: Ich hätte mir gewünscht, dass wir schon etwas früher und etwas fester auf die Bremse getreten wären. Wenn wir schon vor ein bis zwei Wochen härtere Maßnahmen erlassen hätten, wären wir jetzt vielleicht schon in einer ganz anderen Situation. Und dann könnten wir auch mit einem besseren Bauchgefühl über die Lockerungen zu Weihnachten sprechen.
Nun wurde aber nicht allzu fest auf die Bremse getreten. Wie könnte man den Anstieg nach den Feiertagen verhindern? Wie sollte Weihnachten Ihrer Meinung nach ablaufen?
Stürmer: Nun ich denke, dass es in Deutschland sehr viele Menschen gibt, die sich an die Beschränkungen und Maßnahmen halten. Selbst an Weihnachten. Wenn man ihnen sagt, sie sollen sich über die Feiertage nur zu fünft treffen, ihre Kontakte auf einen weiteren Haushalt beschränken, dann würden sie das auch tun. Und damit wäre das Risiko eines erneuten Infektionsanstiegs im neuen Jahr zumindest ein wenig niedriger. Das Jahr war sehr schwer, für jeden Einzelnen. Aber vielleicht wäre es besser, sich in dieser letzten Etappe noch einmal zusammenzureißen.
Zudem kann ich die Altersgrenze von 14 Jahren nicht nachvollziehen, unter der Kinder nicht als Person bei Begegnungen zählen. Dass Kinder unter zwölf Jahren nicht die Haupttreiber des Infektionsgeschehens sind, zeigt die Forschung. Doch diese Grenze auf 14 zu erhöhen, halte ich für riskant. Denn Jugendliche können dabei durchaus eine Rolle spielen.
Was könnte der Grund dafür sein?
Stürmer: Ich glaube, dass die Politik sich stets in einem Spagat zwischen der Gesellschaft und der Gesundheit befindet. Die Lockerungen zu Weihnachten, ebenso diese Altersgrenze könnten ein Versuch sein, die Bevölkerung in den nächsten Wochen dazu zu animieren, mitzuziehen. Weihnachten, die große Motivation. Dann sind die Infektionszahlen am 20. Dezember womöglich wirklich niedrig genug, um ein Durchmischen der Familien etwas weniger gefährlich zu machen.
Und, womöglich werden über die Feiertage auch für die Gastronomie noch einmal neue Regeln erlassen. Bislang gelten die Maßnahmen ja nur bis zum 20. Dezember – vielleicht dürfen auch Restaurants in dieser Zeit wieder öffnen. Das werden wir in den kommenden Wochen sehen.
Haben Sie ein paar Ratschläge, wie ein risikofreies Weihnachten ablaufen könnte?
Stürmer: Risikofrei – das wird es im Augenblick nicht geben. Aber es gibt schon Punkte, auf die Familien achten können. Wir müssen einfach kreativ werden. Vielleicht Veranstaltungen draußen abhalten. Eine Art „Maskenball“, jeder mit einer anderen, bunt bemalten oder gemusterten Maske. Vielleicht die Großeltern in diesem Jahr einmal nicht fest in die Arme schließen, sondern Abstand halten. Und natürlich: Lüften.
Ich möchte den Menschen Weihnachten ja auch nicht vermiesen – aber ich bin eben Virologe. Und ich sage, in diesem Jahr muss es eben etwas anders ablaufen als gewohnt.
Nun sind Sie ja nicht nur Virologe, sondern auch Familienvater. Wie feiern Sie denn in diesem Jahr?
Stürmer: Im kleinsten Kreis, mit ein, zwei Besuchern über die Feiertage verteilt. Maske tragen werden wir unter dem Weihnachtsbaum jedoch nicht. Der Grund dafür: Meine Frau, mein Sohn und ich sind ja in einer besonderen Situation, wir alle waren bereits infiziert. Die Gefahr, dass wir jemanden anstecken, ist also nicht ganz so groß. Das ist in dieser Situation vielleicht unser „Glück“. Vorsichtig sind wir trotzdem.