Wahl in Frankreich Links denken – aber wen wählen?

Wahl in Frankreich Links denken – aber wen wählen?

24. April 2022 Aus Von mvp-web
Stand: 24.04.2022 09:17 Uhr

Im Pariser Vorort Bondy hatte der Linke Mélenchon im ersten Wahlgang besonders stark abgeschnitten. Was aber machen seine Wähler nun? Zähneknirschend für Macron stimmen – oder für Le Pen? Oder gar nicht wählen?

Von Sabine Bohland, ARD-Studio Paris

„Danke“, steht auf dem kleinen Plakat mit dem Porträt des Präsidentschaftskandidaten Jean-Luc Mélenchon – „In Bondy habt Ihr zu 53,55 Prozent Mélenchon gewählt.“ Genützt hat dem Links-Außen-Kandidaten dieses sensationelle Ergebnis jedoch nichts. Er lag vor knapp zwei Wochen als Dritter knapp hinter der Rechtspopulistin Marine Le Pen und kam nicht in die Stichwahl.

Die wird diesen Sonntag darüber entscheiden, ob Frankreich weiter seinen pro-europäischen Weg unter Präsident Emmanuel Macron geht oder ob erstmals eine Frau an der Spitze steht.

Frankreich vor der Stichwahl Druck wie in einem Schnellkochtopf

Vor der zweiten Wahlrunde buhlen Macron und Le Pen vor allem um linke Wähler.

Anhaltende Angst vor dem Abstieg

Eine, die sich von dem Linken Mélenchon einen Wechsel in der französischen Politik erhofft hatte, ist Aurélie Jean-Mouchoux. Zusammen mit zwei Kollegen baut sie ihren Obst- und Gemüsestand auf dem Platz gegenüber des wenig attraktiven Rathauses von Bondy auf. Die 36-Jährige ist hier im Nordosten von Paris, einer sogenannten Banlieue aufgewachsen.

Die Banlieues im Norden und Osten der Hauptstadt waren ursprünglich moderne Siedlungen für Industriearbeiter, wurden im Laufe der Jahrzehnte aber immer mehr zum Synonym für sozialen Abstieg. Die Probleme hier kennt Aurélie. „Den Leuten geht es nicht gut im Moment, alles wird teurer. Manchmal habe ich Kundinnen, die sich nur eine Karotte und eine Tomate leisten können“, erzählt sie.

Und ihre eigene Situation ist auch gerade finanziell angespannt. „Je teurer wir unsere Ware einkaufen müssen, desto teurer müssen wir verkaufen“, erklärt sie. „Und je teurer das Obst und Gemüse ist, desto weniger kaufen die Leute“.

Enttäuschung bei Wählenden nach Niederlage des linken Kandidaten bei Präsidentschaftswahl

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Bondys eigene Atmosphäre

Trotzdem ist Aurélie gerne Marktfrau. Essen müsse man schließlich immer, und sie kommt auf den verschiedenen Märkten rund um Paris mit sehr unterschiedlichen Menschen in Kontakt. In Bondy ist es eine Mischung aus alteingesessenen Französinnen und Franzosen, aus afrikanischen Familien, aus jungen Leuten mit nordafrikanischen Wurzeln.

Auf dem „Ramadan-Markt“ treffen alle zusammen, bei Aurélies Obst und Gemüse und an den Imbiss-Ständen drumherum. Offiziell heißt der Markt, der nur jetzt im April während des Ramadan stattfindet, „Marché des Saveurs“ – Markt der Aromen. Frankreich ist eben ein laizistischer Staat.

Aurélie Jean-Mouchoux hört an ihrem Marktstand täglich, was den Franzosen fehlt. An der Stichwahl will sie dennoch nicht teilnehmen. Bild: Sabine Bohland / ARD-Studio Paris

Kein Kandidat überzeugt

Eines stellt die politisch interessierte Aurélie zunehmend fest: die Politikverdrossenheit. Präsident Macron wird als arrogant und unhöflich gegenüber einfachen Leuten wahrgenommen – und in Vierteln wir Bondy empfinden die meisten jemanden wie Le Pen mit ihrem einwandererfeindlichen Programm als Schlag ins Gesicht.

Miloud Belhadjtahar betreibt auf dem kleinen Markt einen Stand mit marokkanischen Spezialitäten – direkt neben Aurélies Auslage. Jetzt, während des Ramadans, verkauft er gegen Abend frisch gebackene nahrhafte Snacks zum Fastenbrechen. „Frankreich ist unser Land“, sagt er, „und egal, ob wir chinesische, arabische oder afrikanische Wurzeln haben: Wir sind alle gleich, wir gestalten Frankreich gemeinsam. Wir wollen niemand Rassistischen, der unser Land regiert.“

Keine Plakate – und dennoch Zuspruch

Auffällig ist, dass es in Bondy keine Wahlplakate von Marine Le Pen gibt. Sind sie entfernt oder gar nicht erst aufgehängt worden? Es gibt allerdings auch auf dem Markt Menschen, die Le Pen gerne im Elyséepalast sähen. Da ist der ältere Herr mit Hut, der erzählt, dass er seit 1961 in Frankreich lebe, aber nie die Staatsbürgerschaft angenommen habe. „Wenn ich wählen dürfte, würde ich Le Pen wählen.“ Auf erstaunte Nachfrage schildert er, wie unsicher er sich aufgrund der vielen Zuwanderer aus Subsahara-Afrika fühle.

Und eine andere Passantin, auf dem Weg zum nachmittäglichen Scrabble-Rendezvous, hätte gerne eine Frau an der Spitze Frankreichs. Daher wähle sie Le Pen. Ihr Programm fände sie auch nicht schlecht, fügt sie hinzu.

Über dem Rathaus von Bondy hängt die traditionelle Losung: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Nicht nur in Frankreich fragen sich die Bürger, wie diese Worte nach der Stichwahl ausgelegt werden. Bild: Sabine Bohland / ARD-Studio Paris

Droht auch den Banlieues die Gentrifizierung?

Mittagszeit. Aurélie verlässt ihren Marktstand, um mit Kiwi spazieren zu gehen. Kiwi ist ein drei Monate alter Staffordshire Terrier. Er wohnt zusammen mit seinem Frauchen, drei Jungs im Alter von 11 und 12 und mit Aurélies Partner in einer 60 Quadratmeter-Wohnung. Monatliche Miete: 950 Euro. „Und da haben wir großes Glück“, sagt Aurélie. Es sei eine hübsche Gegend und sie bekomme die Wohnung wegen guter Beziehungen günstiger.

Sie befürchtet, dass die Pariser Vororte bald unerschwinglich für Französinnen und Franzosen mit Durchschnittsgehältern werden: „Die Banlieue wird bald von den Leuten aus Paris bewohnt werden und die Leute aus der Banlieue werden weiter nach draußen gedrängt“, meint sie.

Weiter draußen heißt: noch schlechtere Anbindung an die Hauptstadt, Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit. Schon jetzt gelten viele Gegenden in der teilweise berüchtigten Banlieue als Sinnbild für Abgehängtsein, für Kriminalität, für Unmut.

Obst und Gemüse – für manche zu teuer

Aurélie ist zurück am Marktstand, plaudert mit ihren Kundinnen und Kunden, scherzt, handelt, verschenkt hier einen Apfel, dort eine Ananas. Eine weitere Entwicklung hat sie beobachtet: Immer mehr Menschen sammeln am Ende der Markttage die Abfälle ein, weil sie sich Obst und Gemüse nicht leisten können.

Aus genau diesem Grund hat sie Mélenchon gewählt – weil sie sich ein gerechteres Frankreich wünscht. Eines, in dem die Gehälter für Miete und Essen ausreichen und man sogar noch etwas sparen kann. Ihr eigener Traum ist ein Häuschen im Burgund. Irgendwann, wenn die Kinder ihre Schule abgeschlossen haben.

Dann eben nicht wählen

Und wen wählt sie am Sonntag? Aurélie Jean-Mouchoux zuckt mit den Schultern. „Ich gehe nicht wählen“, sagt sie. Sie könne sich einfach nicht aufraffen, Macron zu wählen, der sie fünf Jahre lang enttäuscht habe. Le Pen kommt für sie ohnehin nicht in Frage.

Und falls die Rechtspopulistin gewinnt? „Nein“, sagt Aurélie, „das wird nicht passieren. Das kann einfach nicht passieren. Ich vertraue da auf meine Landsleute. Wir haben in der Schule doch alle die gleichen Werte beigebracht bekommen.“

Gegenüber von Aurélies Obststand, am grauen Betonrathaus von Bondy, steht in großen Buchstaben: „Liberté, Egalité, Fraternité“ – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Und darüber weht die französische Flagge. Auf Halbmast. Aber das ist bestimmt nur Zufall.