Möglicher Gasmangel – Habeck stellt die Priorisierungsfrage
12. Juli 2022Unentwegt warnt Wirtschaftsminister Habeck vor den Folgen eines Gasmangels. Noch sind Privathaushalte durch eine Notfallverordnung geschützt – doch vor gravierenden Engpässen müsse auch die Industrie bewahrt werden.
Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck hat eine Priorisierung von Privathaushalten im Falle einer Gasknappheit infrage gestellt. Auch Verbraucherinnen und Verbraucher müssten „ihren Anteil leisten“, sagte Habeck bei einem Besuch in Wien. Eine dauerhafte oder langfristige Unterbrechung von industrieller Produktion hätte massive Folgen für die Versorgung, sagte der Grünen-Politiker.
„Die europäische Notfallverordnung Gas sieht vor, dass kritische Infrastruktur und Verbraucher geschützt sind und Industrie und Wirtschaft nicht“, sagte Habeck. Dies sei sinnvoll bei kurzfristigen und regionalen Problemen. „Das ist aber nicht das Szenario, das wir jetzt im Moment haben“, sagte er weiter: „Wir reden hier möglicherweise von einer monatelangen Unterbrechung von Gasströmen.“
Habeck will Industrie bei Engpässen nicht vergessen
Habeck will die Industrie bei dauerhaft fehlenden Gasmengen nicht automatisch benachteiligen. Europäische Vorgaben passten in der aktuellen Situation nicht genau und müssten eventuell nachgeschärft werden, sagte er. Denn zuerst sollen im Fall von Gasengpässen private Haushalte und die kritische Infrastruktur wie etwa Krankenhäuser versorgt werden. Industrie und andere Unternehmen hätten das Nachsehen.
Der Wirtschaftsminister äußerte sich auf eine Frage zu Erwartungen an die EU-Strategie für die Energieversorgungssicherheit, die die EU-Kommission in der kommenden Woche vorstellen soll. Wenn nun eine Situation entstünde, in der ein Land seine wirtschaftliche Tätigkeit zurückschraube, um in einem anderen Land für warme Wohnungen zu sorgen, „muss es ein Stück weit auch einen Solidaritätsmechanismus des Ausgleichs geben“, sagte er.
In der aktuellen Gaskrise sieht Habeck auch eine große Chance. „Es gibt jetzt eine neue Allianz aus Klimaschutz und Energiesicherheit“, sagte er mit Blick auf den angestrebten beschleunigten Ausbau erneuerbarer Energien. Auch wenn es aktuell um Fragen wie den Ausbau von Flüssiggasterminals gehe, gebe es strukturell wichtige Entwicklungen. „Unter der Oberfläche sind gerade mächtige Bewegungen im Gange, die, wenn wir diese Zeit durchstehen, diesen Kontinent, Österreich und Deutschland stark und stärker machen“, so Habeck.
Beim Besuch des österreichischen Wirtschaftsministers Martin Kocher bekannten sich beide Länder in einer gemeinsamen Erklärung zu einer engen Energiekooperation. So sind die beiden österreichischen Bundesländer Tirol und Vorarlberg ans deutsche Gasnetz angeschlossen, andererseits hat Österreich große Gasspeicher anzubieten.
Österreichs Energieministerin Leonore Gewessler mahnte, dass sich die Europäer nicht – wie vom russischen Präsidenten Wladimir Putin beabsichtigt – angesichts der kritischen Lage auseinanderdividieren lassen dürften.
Russland hatte zuletzt die Gaslieferungen nach Deutschland und weitere europäische Staaten deutlich reduziert. Durch die Wartung der Pipeline Nord Stream 1 liegen die Gasmengen inzwischen sogar bei null. Unklar ist, ob die Lieferungen nach der Wartung wieder anlaufen – und wie stark.
Habeck sprach von dunklen Wolken am Horizont. Es müssten Szenarien besprochen werden, die lange nicht vorstellbar gewesen seien. „Jetzt drängt die Zeit.“ Die aktuelle Krise erinnere ihn zumindest in einem wichtigen Punkt an die Finanzkrise von 2008. Alle Mahnungen seien damals in den Wind geschlagen worden, so Habeck. „Natürlich gab es Stimmen, eine einseitige Abhängigkeit von einem zwielichtigen Staatenlenker, das kann nicht richtig sein.“
Die Entscheidung zum Bau der Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 sei 2015 gefallen, ein Jahr nach der Besetzung der Krim durch Russland. Die Länder hätten sich nicht breit genug aufgestellt, sondern den einfachen, billigen und finanziellen Vorteil gern genommen. Deutschland habe sich abhängig gemacht, sagte Habeck, ohne Putin namentlich zu nennen. Diesem hatte er zuletzt immer wieder vorgeworfen, Gas als politische Waffe einzusetzen.
Bundeskanzler Olaf Scholz ist indes laut eigenen Worten zuversichtlich, dass sich die EU-Staaten solidarisch zeigen werden, wenn es im Herbst oder Winter zu einem Gasmangel kommen sollte. „Wir müssen natürlich in Europa solidarisch sein“, sagte er nach einem Treffen mit dem slowenischen Ministerpräsidenten Robert Golob. „Ich bin sicher, dass uns das gelingen wird“, so Scholz.
Golob hatte zuvor betont, dass gerade kleine EU-Länder wie Slowenien auf die Hilfe angewiesen sein könnten. Kein Land könne alleine mit einer Energiekrise umgehen; Lösungen gebe es nur im EU-Verbund.
Unterdessen will Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann noch im Juli bei einem Gasgipfel mit Kommunen, Wirtschaft und Versorgern Vorkehrungen für die drohende Krise treffen. Das verkündete er bei einer Sitzung seines Kabinetts in Brüssel, wie die Nachrichtenagentur dpa berichtete. Bei dem Treffen sollen auch konkrete Vorschläge gesammelt werden, wo Industrie und Haushalte Energie einsparen können.
Kretschmann hatte zuletzt vor dramatischen Folgen eines Gasmangels im Winter für Unternehmen, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie Haushalte gewarnt. Er geht laut eigenen Angaben davon aus, dass viele Firmen, die Gas für ihre Produktion brauchen, dann ihren Betrieb einstellen und Tausende Beschäftigte entlassen müssten.