Cherson „Russische Institutionen werden evakuiert“
24. Oktober 2022Angesichts vorrückender ukrainischer Streitkräfte hat Russland die Menschen im besetzten Cherson zur Flucht aufgerufen. Aus der Stadt gebracht werden offenbar vor allem Personen, die für die Besatzungsbehörden gearbeitet haben.
Maria zu erreichen ist nicht einfach. Sie lebt im russisch besetzten Cherson, die Verbindung ist oft schlecht. Offenbar bereiten sich die russischen Streitkräfte auf weitere Gebietsverluste im Süden der Ukraine vor – das zumindest ist die ukrainische Interpretation von Äußerungen der russischen Besatzungsbehörden in Cherson. Diese hatten die Bevölkerung in den vergangenen Wochen mehrmals dazu aufgerufen, die Stadt am Dnipro zu verlassen. Maria hat die gesamte Zeit der Besatzung in Cherson erlebt. „Alle russischen Institutionen werden evakuiert“, erzählt Sie. „Die Rentenstelle, die sie eröffnet haben, ist schon geschlossen. Aus den Banken haben sie gestern Kisten, Teppiche und Möbel geschleppt. Auch Bildungseinrichtungen, Schulen und Universitäten, die sie aufbauen wollten, werden evakuiert.“
Maria heißt eigentlich anders. Zu ihrem Schutz nennen wir ihren richtigen Namen und ihren Beruf nicht öffentlich. Überprüfen lassen sich ihre Angaben nicht, doch sie decken sich mit den Schilderungen von Anna. Auch sie lebt nach wie vor in Cherson. Auch sie heißt eigentlich anders. Evakuiert würden vor allem Menschen, die für die Besatzungsbehörden gearbeitet hätten, sagt Anna: „Das ist eine bestimmte Kategorie von Menschen. Kollaborateure, Angestellte von Schulen oder Banken, die im Sommer hierher kamen, um in einer besetzten Stadt zu arbeiten und in die Wohnungen derjenigen gezogen sind, die vor dem Krieg geflohen sind. Diese Menschen verlassen nun die Stadt unter dem Deckmantel der Evakuierung.“
Viele Menschen sind bereits geflohen
Für Zivilisten ist es inzwischen sehr schwierig geworden, Cherson zu verlassen. Von den fast 300.000 Einwohnern der Stadt ist ein Großteil bereits geflohen. Auf ukrainisch kontrolliertes Gebiet zu gelangen, scheint derzeit nahezu unmöglich. Wer Cherson verlassen will, muss Richtung Süden auf russisch-kontrolliertes Gebiet. Auch Sicherheitskräfte verlassen offenbar die Stadt, berichtet Anna: „Ich sehe, wie Sicherheitskräfte von hier abgezogen werden, die Leute vom FSB, die russischen Polizisten. Sie ziehen ab, oft in ziviler Kleidung.“
Der ukrainische Generalstab gibt an, Russland bringe derweil vermehrt junge, unerfahrene Soldaten nach Cherson. Eine Entwicklung, die auch Maria vor Ort beobachtet hat. „Die jungen Menschen, die sie hierher gebracht haben, sind wie junge Leute ebenso sind“, erzählt sie. „Sie fahren mit ihren Autos durch die Stadt, hupen junge Frauen an, wollen Mädchen kennenlernen. Sie verhalten sich ruhig und haben keine Angst. Sie waren noch nicht im Gefecht, lachen und machen Scherze.“
Zudem schlägt der ukrainische Präsident Selenskyj Alarm: Russische Truppen hätten das Wasserkraftwerk in Nowa Kachowka – etwa 70 Kilometer nordöstlich von Cherson – vermint. Sollte das Werk zerstört werden, könnten 80 Siedlungen in der Region von starken Überflutungen betroffen sein. Über den Damm verläuft auch eine wichtige Brücke. Nach gezielten Angriffen der ukrainischen Streitkräfte in der Region ist diese Brücke eine der wenigen Möglichkeiten für russische Truppen, den Fluss Dnipro zu überqueren. Doch schon im August hatte das ukrainische Militär angegeben, auch die Brücke beim Wasserkraftwerk in Nowa Kachowka beschossen und beschädigt zu haben.
„Das vorstellbare Worst-Case-Szenario ist, dass das Wasserkraftwerk gesprengt wird und der Stausee das Flussbett des Dnipro flutet“, erzählt Anna. „Aber die Stadt Cherson liegt höher, am rechten Flussufer. Hier droht eine Überschwemmung, aber nicht so schlimm wie auf dem linken Ufer.“ Deshalb habe sie keine Angst vor einer Sprengung, sagt Anna. Denn die russischen Truppen würden die Angestellten der Besatzungsbehörden und ihre eignen Streitkräfte genau dorthin – auf die linke Uferseite – bringen.
Offenbar tausende Kinder auf Krim gebracht
Anna macht etwas anderes als die Sprengung Angst: Vor etwa zwei Wochen begannen die Besatzungsbehörden Kinder aus Cherson auf die Krim zu bringen. Wladimir Saldo, der Leiter der russischen Besatzungsbehörde, begründete dies offiziell gegenüber russischen Staatsmedien: „Solange es in Cherson ein bisschen unruhig ist, ist es für die Kinder besser, sich auszuruhen. Wenn unsere Streitkräfte für Ordnung gesorgt haben, können sie zurückkehren und die Schule fortsetzen. Und bis dahin ist es doch klasse, wenn man sich erholen kann, Spaß hat, dem Alltag entfliehen kann.“
Laut russischen Staatsmedien und den Besatzungsbehörden seien bereits Tausende Kinder auf die Krim gebracht worden. Bis zu 5000 könnten es werden. Auch ein Waisenhaus sei nach offiziellen russischen Angaben auf die Krim – Zitat – „evakuiert“ worden. Anna aber berichtet anderes: „Zuerst sollten die Kinder am 21. Oktober zurückkommen. Dann hieß es, der Urlaub werde um eine Woche verlängert bis zum 28. Oktober. Freunde haben mir aber berichtet, dass die Eltern schon eine Woche keinen Kontakt mehr zu ihren Kindern haben. Die Eltern können nicht mehr mit ihren Kindern sprechen.“
Anna und Maria wollen in Cherson bleiben. Sie decken sich mit Lebensmitteln ein, die knapp geworden sind. Beide hoffen, dass die ukrainischen Streitkräfte ihr Cherson bald zurückerobern können.