Stimmen aus dem russischen Geheimdienst „Viele beim FSB halten den Krieg für verloren“

Stimmen aus dem russischen Geheimdienst „Viele beim FSB halten den Krieg für verloren“

29. Oktober 2022 Aus Von mvp-web
Exklusiv
Stand: 29.10.2022 08:08 Uhr

Im Machtapparat des Kremls rumort es. Darauf deuten interne Informationen hin. Kontraste und die Deutsche Welle konnten erstmals mit einer Frau sprechen, die für den Inlandsgeheimdienst FSB gearbeitet hat.

Von David Hoffmann und Kaveh Kooroshy, rbb

Marija Dmitriewa hat es raus aus Russland geschafft – über Nordafrika in den Transitbereich am Flughafen in Paris, wo sie politisches Asyl beantragt hat. Sie ertrüge nicht mehr, was in ihrer Heimat geschehe, sagt sie: „Ich will, dass das Sterben ein Ende hat. Ich will nicht mehr, dass Menschen in der Ukraine sterben, dass Russen sterben.“ Die 31-jährige ist Ärztin und hat nach eigenen Angaben seit 2016 für drei russische Sicherheitsbehörden gearbeitet – zuletzt für den Inlandsgeheimdienst FSB. Doch der Krieg in der Ukraine habe sie dazu veranlasst, mit dem Staat zu brechen.

Ein Team des ARD-Politikmagazins Kontraste trifft sie an der Mittelmeerküste in Südfrankreich. Dmitriewa ist keine Oppositionelle, keine Liberale. Sie war bis vor Kurzem selbst Teil des Systems Putin, arbeitete wohl für das Innenministerium, das Verteidigungsministerium und eben den Geheimdienst FSB. Hier in Frankreich geht sie nun erstmals an die Öffentlichkeit.

Marija Dmitriewa | rbb/Kontraste

Die Ärztin Dmitriewa hat mit dem russischen Staat gebrochen. Bild: rbb/Kontraste

Viele halten den Krieg für verloren

Viele im FSB hielten den Krieg mittlerweile für verloren, sagt sie. Als Ärztin habe sie immer wieder unzufriedene Mitarbeiter behandelt, die den Dienst verlassen wollten: „Sie haben gesagt, dass sie müde sind. Man verlässt den FSB nicht einfach so. Es ist eine sehr angesehene Arbeit, die sehr schwer zu bekommen ist. Und wenn dann drei junge Mitarbeiter innerhalb eines Monats den Dienst quittieren, spricht es dafür, dass sie nicht einverstanden sind mit dem System.“ Dmitriewa glaubt, unter den Geheimdienstlern gehe die Angst um, eines Tages für die Verbrechen im russischen Angriffskrieg zur Rechenschaft gezogen zu werden.

Unabhängig überprüfen lassen sich ihre Aussagen nicht. Dmitriewa belegt Kontraste aber mit Dokumenten ihre Mitarbeit in den russischen Sicherheitsbehörden. Flugtickets, die sie vorlegt, bestätigen ihre Angaben zur Flucht.

Der Politikwissenschaftler und Russland-Kenner Gerhard Mangott von der Universität Innsbruck hält die Einschätzung Dmitriewas grundsätzlich für plausibel: „Aus meinen Quellen erfahre ich schon, dass es in den Führungsstäben des FSB Fragen danach gibt, wie viel man denn bereit sei, für einen Sieg in der Ukraine zu bezahlen. Und dass auch die Zahl derer zunehme, die Sorge haben, dass Russland diesen Krieg auch verlieren könnte.“

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„Wind of change“ im Geheimdienst

Ein ähnliches Bild zeichnet Wladimir Osetschkin. Der russische Menschenrechtsaktivist und Gründer von gulagu.net, einer NGO, die Missstände in russischen Gefängnissen aufdeckt, hat gute Kontakte zu kritischen Geheimdienstlern. Unter dem Motto „wind of change“ hat er seit Beginn des Ukrainekrieges zahlreiche Berichte eines russischen Geheimdienst-Mannes im Internet veröffentlicht, die nach Kontraste-Informationen von westlichen Diensten als authentisch eingeschätzt werden.

Aktivist Osetschkin sieht in den russischen Geheimdiensten ein Umdenken in Bezug auf Putin. Bild: rbb/Kontraste

„Den Quellen aus dem System nach zu urteilen, glauben sehr viele, dass das, was Putin am 24. Februar begonnen hat, in den Abgrund, in die Katastrophe führe, dass es Putins größter Fehler als Politiker und Staatsoberhaupt sei“, sagt Osetschkin, der auch in Frankreich lebt, im Interview mit Kontraste. „Viele im System empfinden das sogar als Verrat. Denn im Laufe von 20 Jahren hat das gesamte System der Sicherheitsbehörden Putin dabei geholfen, an der Macht zu bleiben.“ Jetzt hätten sie Angst, dass Putin ihren Wohlstand und ihre Sicherheit aufs Spiel setze.

Französische Behörden sorgen sich um Osetschkins Sicherheit – er wird rund um die Uhr bewacht. Im Interview erzählt er, erst vor wenigen Wochen hätte es einen Anschlagsversuch auf ihn gegeben. Kürzlich wurde bekannt, dass in Russland ein Ermittlungsverfahren gegen ihn eingeleitet worden ist – wegen angeblicher Verbreitung von Falschinformationen über die russische Armee.

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Putins „Bluthund“ Kadyrow

Osetschkin sagt, wachsender Unmut sei der Grund, weshalb Putin den Tschetschenen-Führer Ramsan Kadyrow zum Generaloberst befördert habe. Der „Bluthund Putins“ gilt als besonders loyal und brutal. Auch der Chef der privaten Söldner-Armee Wagner, der Oligarch Jewgeni Prigoschin, soll an Einfluss gewonnen haben. Eine Taktik von Putin, so Osetschkin, mit der er sich vor Putschversuchen absichern wolle: „Putin hat panische Angst davor, deshalb schafft er eine Vielzahl verschiedener Abteilungen und Einheiten, die sich gegeneinander wenden können.“

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Eine Strategie, die auch Mangott erkennt: „Putin ist jemand, der in seiner Umgebung gerne viele Akteure hat, die untereinander im Konflikt sind, die miteinander rivalisieren“, sagt der Politikwissenschaftler. „Das erlaubt ihm dann zu gebotener Zeit eine Entscheidung zu treffen, einen Richterspruch, gewissermaßen der letzte Vermittler und Entscheider zu sein.“

Dies sorge aber zunehmend für Spannungen im Machtapparat, so erzählt es Dmitriewa: „Die Mitarbeiter in den Sicherheitsbehörden haben Angst davor, dass in Zukunft noch radikalere Kräfte an die Macht kommen, also solche Banditen wie Kadyrow, denen sie sich dann unterordnen müssen.“ Schon jetzt hätten Kadyrows Leute bessere Gehälter und modernere Ausrüstung als die regulären Truppen.

Krieg ohne Rücksicht auf Zivilisten

Dmitriewa glaubt, der Krieg werde weiter eskalieren. Zwei Quellen aus dem FSB hätten ihr von der Sitzung des russischen Sicherheitsrates am 10. Oktober berichtet. „Sie haben besprochen, wie man die Situation in der Ukraine unter Kontrolle kriegen könnte. Dabei war es völlig egal, mit welchen Mitteln dieses Ziel erreicht wird und wie viele Zivilisten dabei sterben.“ Am gleichen Tag begann die systematische Bombardierung ziviler Ziele in der Ukraine.

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