Aufatmen nach dem Schock: Mutiertes Virus aus England ist harmloser als befürchtet
30. Dezember 2020
Statt auf die Piste sollte es für die Skiurlauber aus Großbritannien plötzlich in Quarantäne im Hotel gehen. Die Schweizer Gesundheitsbehörden verfügten das nach einer beunruhigenden Meldung aus London über eine hochansteckende Mutation des Coronavirus.
Premier Boris Johnson, der seinen Landsleuten trotz hoher Infektionszahlen stets ein entspanntes Weihnachten im weiten Familienkreis versprochen hatte, ruderte am Wochenende vor Heiligabend zurück und verkündete in einer Fernsehansprache einen harten Lockdown für London und weite Regionen Südostenglands. Dort hatte sich das mutierte Virus am stärksten ausgebreitet.
Europa in Panik vor den Briten
Frankreich schloss die Tunnel- und Fährverbindungen zu Großbritannien. Tauende Transporter und ihre Fahrer saßen auf beiden Seiten des Ärmelkanals fest. Flugverbindungen von und nach England wurden gekappt. Großbritannien war vom Rest der Welt abgeschnitten – es war ein harter Brexit der besonderen Art.
Für eine Abschottung war es da schon zu spät. Das mutierte Coronavirus kursierte längst auf dem Kontinent. In England wurde es entdeckt, weil die Gesundheitsbehörden dort viele Virusproben genetisch untersuchen. In Deutschland wird das zum Beispiel so gut wie gar nicht gemacht. Doch auch hierzulande wurde die neue Virus-Variante schon im November nachgewiesen.
Höheres Ansteckungspotenzial für Kinder?
Und so fanden britische Virologen bereits im Oktober das Virus der B1.1.7-Linie als „Variant Under Investigation“, also eine Variante unter Beobachtung, und verpassten ihm das Kürzel VUI-202012/01. Es sei wesentlich ansteckender – bis zu 70 Prozent infektiöser, hieß es anfangs – und wäre im Südosten Englands bereits das überwiegende Coronavirus.
Die rasche Ausbreitung der Variante beunruhigte auch Forscher außerhalb Englands. Die Süddeutsche Zeitung zitiert den Baseler Mutationsexperten Richard Neher, der sagt: „So eine schnelle Ausbreitung einer Variante hat man selten vorher gesehen. Es gibt allen Grund zur Vorsicht.“
Das englische Virus unterscheidet sich an 17 Stellen im Erbgut vom gängigen Coronavirus. Vor allem Veränderungen im Spikeprotein könnten Sprengkraft haben. Denn mit diesen igeligen Spitzen dockt das Virus an menschliche Zellen an und dringt in sie ein. Die dortigen Mutationen gelten als Erklärung für das verstärkte Ansteckungspotenzial. Und es betrifft möglicherweise vermehrt Kinder, die sich bisher seltener als Erwachsene infizieren. Ihre bisherige Widerstandsfähigkeit beruht vor allem darauf, dass sie weniger Rezeptoren aufweisen, an die das Coronavirus zur Eroberung von Körperzellen andocken muss.
Virus-Mutation: Kein Einfluss auf Krankheitsverlauf oder Sterblichkeit
Auf die Covid-19-Erkrankung oder Sterblichkeit hat die Virus-Mutante keinen Einfluss. Das vermuteten Mediziner in England frühzeitig. Sonst hätten die Krankenhäuser entsprechend der rasant steigenden Infektionszahlen sehr viele zusätzliche Patienten registriert, was nicht der Fall war. Das bestätigt jetzt auch eine Untersuchung der britischen Gesundheitsbehörde PHE in London. Dafür wurden knapp 1800 Covid-19-Fälle der neuen Virus-Variante analysiert. Das Ergebnis: keine schwereren Krankheitsverläufe, keine vermehrten Klinikeinweisungen, keine höheren Sterbezahlen, kein erhöhtes Risiko einer Reinfektion.
Bleibt die große Frage: Beeinträchtigt die starke Mutation die Wirkung der gerade erst zugelassenen Impfstoffe? Auch hier gaben britische Wissenschaftler schnell Entwarnung. Die Vakzine seien an vielen Virus-Varianten getestet worden. Es gäbe keinen Grund an der Wirksamkeit gegen die neue Variante zu zweifeln.
Viele Mutationen können dem Virus auch schaden
Andere Forscher wiesen allerdings darauf hin, dass es komplex und zeitaufwendig sei, die Folgen einer massiven Mutation beurteilen zu können. Bisher seien alle Schlussfolgerungen eher Mutmaßungen. Dabei können sich Vermutungen auch zum Besseren entwickeln: So haben neue Berechnungen, um wieviel ansteckender das mutierte Virus ist, die Zahl von 70 auf 56 beziehungsweise 50 Prozent gedrückt.
Andererseits verstärkt eine der 17 Mutationen die Bindung von Viren an Zellen, was sich auf das Ansteckungsrisiko für Kinder auswirken kann. Deren relativ wenige Rezeptoren für die Virus-Stacheln gelten als Grund für geringe Infektionszahlen. Eine stärkere Bindungsfähigkeit der neuen Virus-Variante könnte das wettmachen. Aber: Auch die Annahme, dass Kinder sich jetzt exorbitant anstecken, steht bisher ohne Beleg im Raum.
17 Mutationen, aber Experten sind kaum beunruhigt
Und, so paradox es für Laien klingt, die vielen Mutationen (17!) gleichzeitig, beruhigen die Experten mehr, als dass sie sie beunruhigen:
Erstens ist es möglich, dass sich die Veränderungen in die Quere kommen und sich gegenseitig behindern. Das kann das Virus schwächen. Und zweitens vermuten Wissenschaftler, dass sich die Mutationen in einem einzigen immungeschwächten Langzeitpatienten entwickelt haben. So viele Veränderungen auf einmal passieren bei der normalen Übertragung nicht, wissen Virologen. Für die Ein-Patient-Vermutung spricht auch, dass sich die neue Virus-Variante nicht mehr stärker verändert als das bisherige Sars-Cov-2, seit es sich so stark ausbreitet.
Man könnte sagen, dass das Virus sein Ziel erreicht hat: so viele Menschen wie möglich anzustecken, um das eigene Überleben zu garantieren.