„Das rächt sich jetzt“: Millionen Senioren warten vergeblich auf eine Corona-Impfung
30. Dezember 2020
Seit Sonntag wird der Impfstoff von BionTech/Pfizer gespritzt. Während die meisten Menschen in Deutschland und der EU erleichtert sind, erleben ältere Menschen, die pflegebedürftig sind und zu Hause leben, eine Enttäuschung: Sie erhalten den Impfstoff vorerst nicht und müssen auf die Zulassung eines anderen Serums warten, der transportierfähig ist. Wann das sein wird, ist ungewiss.
Eugen Brysch (58), Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, wirft im Gespräch mit FOCUS Online den Politikern und der Ständigen Impfkommission Versäumnisse vor und appelliert an die Verantwortlichen, sich „endlich mit der Lage der Pflegebedürftigen und der Senioren zu befassen“.
FOCUS Online: Seit dem 27. Dezember laufen die Impfungen in Deutschland und Europa an. Ältere Menschen in Senioren- und Pflegeheimen sowie Pflegepersonal werden zuerst geimpft. Eine Gruppe scheint man aber bei der Planung vergessen zu haben: die älteren Menschen, die zu Hause leben und nicht mehr mobil sind. Sie sind in Deutschland bei den Senioren in der Mehrheit.
Eugen Brysch: Grund dafür ist, dass man die Gruppe der Menschen, die zuerst geimpft werden sollen, mit acht Millionen viel zu groß gefasst hat und nicht zu vergessen: Der allergrößte Teil dieser Gruppe lebt nicht in einem Pflegeheim, sondern zu Hause. Mitten unter uns.
FOCUS Online: Sie haben schon im November davor gewarnt, dass diese Gruppe zu groß ist. Damals wurde Ihnen gesagt, Sie sollten das nicht zu stark kritisieren, sondern sich darüber freuen, dass der Impfstoff da ist und die Hochbetagten und pflegebedürftigen Menschen die erste Priorität haben. Haben Sie letztendlich Recht behalten?
Brysch: Es ging uns nicht darum, Recht zu behalten, sondern es ging uns um eine praktische Lösung für die Menschen, die impfwillig sind. Es sollte verhindert werden, dass wir organisatorische Hürden aufbauen und Impfwilligen den Weg zur Impfung versperren. Bedauerlicherweise ist das jetzt geschehen.
FOCUS Online: Der Impfstoff von BioNTech/Pfizer kann nicht in Einzelhaushalte geliefert werden, da er vor Ort aufgetaut, verdünnt und direkt verimpft werden muss. Für einen Impfling müssten vier von fünf Dosen weggeschmissen werden. Welche Lösung kann es da geben?
Brysch: Es scheint nicht in Stein gemeißelt zu sein, dass eine aufsuchende Impfung mit diesem Impfstoff nicht möglich ist. Auch wird der Impfstoff schon Tage vor der Verimpfung auf Temperatur gebracht. Denn wie ist sonst zu erklären, dass in einzelnen Städten bereits tatsächlich mobile Impfteams unterwegs sind, die Senioren nicht nur in Pflegeheimen, sondern auch zu Hause aufsuchen?
Priorisierung innerhalb der ersten Gruppe: In Stufen arbeiten
FOCUS Online: Wäre das die Lösung? Sollten grundsätzlich ambulante Teams Menschen aus Einzelhaushalten einsammeln und gemeinsam an einem externen Ort impfen?
Brysch: Konkret muss zunächst innerhalb der ersten Gruppe eine Priorisierung vorgenommen werden. Es ist bekannt, dass nicht genügend Impfstoff da ist. Wir sind ja auch bei der Verimpfung ein lernendes System. Doch ein lernendes System mit acht Millionen Menschen gleichzeitig beginnen zu lassen, ist immer fatal. In Stufen zu arbeiten, ist aus meiner Sicht besser. In der ersten Phase Pflegeheimbewohner, in der zweiten Phase Pflegebedürftige, dann die über 80-jährigen und in der vierten Phase diejenigen, die sich darum kümmern.
FOCUS Online: Waren die Planungen hier zu kurzsichtig?
Brysch: Der Bundesgesundheitsminister ist für die Priorisierung und Bereitstellung des Impfstoffs zuständig. Die Länder verantworten die Organisation der Impfangebote. Die jetzt gewählten übergroßen Prioritätsgruppe schützen Jens Spahn vor einer kleinteiligen Rechtfertigungsdiskussion. Doch das politische Manöver macht die Impfung für eine große Gruppe vor Ort viel schwieriger. Praktisch übernehmen jetzt zufällige Gegebenheiten und organisatorische Mängel die kleinteilige Priorisierung. Das Nachsehen haben die Impfwilligen der über 80-jährigen und Pflegebedürftigen. Die Politik nennt das Anlaufschwierigkeiten, ich nenne das den Mangel, die Verantwortung übernehmen zu wollen. An die Quelle der Probleme zu gehen, bedeutet aber auch gegen den Widerstand anzuschwimmen.
FOCUS Online: Rächt sich das jetzt?
Brysch: Ja, das rächt sich jetzt. Es ist schlecht, dass Bund und Länder die Konfliktsituationen minimieren wollten, anstatt eine praktikable Lösung anzubieten, die nicht so viel Frustration hervorruft, wie wir sie heute haben. Es ist bekannt gewesen, dass nicht ausreichend Impfstoff da ist. Das war seit Monaten klar, dass nicht jedem sofort eine Impfdosis zur Verfügung steht, der sich impfen lassen will.
Fehlgeschlagene Terminzuteilung führt zu Frustration – und dann zu geringer Impfbereitschaft
FOCUS Online: Befürchten Sie, dass die Impfbereitschaft jetzt nachlässt?
Brysch: Die Impfbereitschaft in Deutschland ist im Hinblick auf die Corona-Krise vielschichtig. Es gibt eine Gruppe, etwa ein Drittel, die lehnt Impfungen ab. Eine andere Gruppe ist dafür, ein weiteres Drittel ist unschlüssig. Genau um die geht es. Gerade auch Ihnen müssen wir ein überzeugendes Angebot machen und dürfen dabei nicht diejenigen vergessen, die sich impfen lassen wollen. Je schwieriger wir es schon bei der ersten Kontaktaufnahme, der Terminzuteilung, machen, je mehr Frustration bauen wir auf und wundern uns dann darüber, dass sich die Impfbereitschaft nicht so entwickelt wie wir es dringend brauchen.
FOCUS Online: Wie groß schätzen Sie die Gefahr für diese älteren Menschen ein? Von 21.128 Menschen im Alter über 80 Jahre, die seit Beginn der Pandemie an oder mit Covid-19 gestorben sind, lebten nach Zahlen des Robert-Koch-Instituts mindestens 59 Prozent zu Hause. Von über vier Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland werden mehr als drei Millionen zu Hause von Angehörigen oder Pflegekräften versorgt. Wie kann man diese große Gruppe aus dem Blick verlieren?
Brysch: Das macht überdeutlich, dass wir mit einer klareren, differenzierteren Priorisierung viel besser auch mit Erwartungen hätten umgehen können. So rufen wir acht Millionen Menschen auf, sich impfen zu lassen und frustrieren viele von ihnen, weil diese Impfbereitschaft derzeit noch nicht bedient werden kann.
Es ist vorher bekannt gewesen, dass 900.000 Menschen in Pflegeheimen leben. Die werden von etwa einer halben Millionen Altenpflegerinnen und Altenpflegern gepflegt. Ebenso ist bekannt, dass über drei Millionen Menschen zu Hause versorgt werden. Und zwar von etwa einer Millionen Pflegerinnen und Pflegern sowie von Angehörigen. Diese Zahlen sind nicht neu und hätten bei einer Impfpriorisierung berücksichtigt werden müssen.
„Ich werfe der Bundesregierung und den Ländern vor, dass sie bis heute anscheinend nicht lernfähig sind“
FOCUS Online: Sie wurden offenbar nicht berücksichtigt. Wie nennen Sie das? Nachlässigkeit? Skandal?
Brysch: Ich mag das Wort Skandal nicht. Es bringt uns nicht weiter. Aber mein dringender Appell an die politisch Verantwortlichen lautet, sich endlich mit der Lage der Pflegebedürftigen und der Senioren zu befassen. Wir blicken in Deutschland jedoch vornehmlich nur auf die Krankenhäuser und die Intensivstationen. Die Covid-Krise wird aber nicht dort entschieden, sondern bei den über 80-Jährigen. Es gibt zwar sehr viele Spezialisten in den Beraterteams: Virologen, Chefärzte, Labormediziner. Es scheint aber so, als wenn kaum Expertise aus der praktischen Altenpflege und der Seniorenarbeit abgerufen wird.
Obwohl hier die Lage am dramatischsten ist, weil hier die höchsten Sterblichkeitsraten zu verzeichnen sind, da die Krankheitsverläufe am schwersten sind. Trotzdem wird es nicht wahrgenommen. Denn man umgibt sich zu wenig mit Expertinnen und Experten, die die Lage der pflegebedürftigen Menschen zu Hause im Blick haben. Obwohl die Politik ja froh ist, wenn viele Pflegebedürftige zu Hause gepflegt werden, weil dies die Pflegeversicherung entlastet. Dennoch ist man auf diesem Auge getrübt. Ich werfe der Bundesregierung und den Ländern vor, dass sie bis heute anscheinend nicht lernfähig sind.
FOCUS Online: Was fordern Sie?
Brysch: Ehrlichkeit und klare Priorisierung. Ein Eingeständnis, dass die erste Impfgruppe von acht Millionen Menschen zu groß ist. Die Ansage muss lauten: Wir wollen keine falsche Erwartung wecken, wir haben nicht genügend Impfstoff. Daher müssen wir die acht Millionen aufsplitten in die Gruppen 1,2 und 3. Die kleineren Gruppen erhalten dann umgehend ein Angebot zur Impfung – und nicht irgendwann in der Zukunft wie das jetzt der Fall ist.
Spahn hat die erste Gruppe zu groß angesetzt
FOCUS Online: In den Ministerien zeigt man sich offenbar zerknirscht darüber, dass der Impfstoff von BioNTech/Pfizer nicht zu den Menschen in die Wohnungen gebracht werden kann. Aus dem Gesundheitsministerium NRW erhielten wir heute Morgen die Erklärung: „Diejenigen, die nicht mobil sind und in der eigenen Häuslichkeit leben, sind daher auf die Zulassung weiterer, transportierfähiger Impfstoffe angewiesen.“ Ein Zeitpunkt, wann dies geschieht, ist derzeit nicht abzusehen.
Brysch: Die Unzulänglichkeiten des Impfstoffs waren schon am 4. Oktober bekannt. An diesem Tag hat der Gesundheitsminister Spahn gesagt, dass wir eher in Messehallen als in Turnhallen impfen müssen. Man wusste also von den Schwierigkeiten des Impfstoffs. Das werde ich meinen Lebtag nicht vergessen. Dass die Leute, die zu Hause leben und nicht mobil sind, vorerst nicht versorgt werden können, ist ein Problem, das Bund und Länder selbst zu verantworten haben.
FOCUS Online: Ein weiteres Problem ist der Einsatz von ausländischen Pflegekräften. Häusliche Pflegerinnen und Pfleger kommen oft aus dem osteuropäischen Raum wie Tschechien und Polen. Dort sind die Inzidenzzahlen höher. Über Weihnachten haben sie ihre Familien besucht. Droht hier weitere Gefahr für die älteren Menschen, die zu Hause leben?
Brysch: Das ist eine außerordentlich spannende Frage, die auf ein Grundproblem hinweist, das nichts mit ausländischen Pflegekräften oder einem ausländischen Arzt zu tun hat. Das Problem liegt darin, dass sich der größte Teil des Pflegepersonals und der Ärzteschaft eben nicht am Patienten anstecken, sondern untereinander beziehungsweise das Virus in die Einrichtung mitbringt, ohne es zu wissen. Diese Erkenntnis ist wissenschaftlich untersucht, sie ist zweifelsfrei belegt, aber wir kommunizieren sie nicht. Wir weichen ihr aus, weil sie so unangenehm ist.
Schnelltests werden zu wenig genutzt
Wir glauben, dass diese Wahrheit eine Antihaltung gegenüber medizinisch-pflegerischen Personal hervorrufen würde. Wenn wir wenigstens die wissenschaftlichen Erkenntnisse berücksichtigen würden, hätten wir Instrumente, um das Virus aus den bestehenden Einrichtungen herauszuhalten. Wir sind dann ja nicht schutzlos. Wir haben die Möglichkeit, durch laborgestützte PCR-Tests zweimal die Woche und tägliche Schnelltests beim Betreten die Menschen in Einrichtungen zu schützen. Wir nutzen sie aber nicht. Verkehrte Welt in Deutschland. Über den Sommer bis Anfang Oktober wird jedem Reise-Rückkehrer am Bahnhof, Grenzübergang und Flughafen das kostenlos ermöglicht.
Erklärung des NRW-Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales gegenüber FOCUS Online
„Der Impfstoff ist nach der Rekonstituierung nicht mehr transportabel ist: Im Zentrallager wird das vom Hersteller gelieferte Impfstoff-Konzentrat tiefgefroren bei -70 Grad gelagert. Bei 2-8 Grad wird das Impfstoff-Konzentrat aufgetaut und (derzeit) in die Pflegeeinrichtungen (später in die Impfzentren) gebracht. Vor Ort wird der Impfstoff rekonstituiert d.h. die aufgetaute Lösung verdünnt. Ein Flässchen mit der verdünnten Flüssigkeit beinhaltet dann fünf Impfdosen. Ab da kann der rekonstituierte Impfstoff nicht mehr z.B. durch einen Arzt im Auto transportiert werden. Auch eine Rekonstitutierung in Wohnungen fällt weg, da in der Regel in einer Wohnung nicht alle 5 Impfungen im Fläschchen sofort verimpft werden können. Mobile Menschen werden daher in die Impfzentren kommen müssen. Diejenigen, die nicht mobil sind und in der eigenen Häuslichkeit leben, sind daher auf die Zulassung weiterer, transportierfähiger Impfstoffe angewiesen.“
FOCUS Online: Und was ist mit den Leuten zu Hause?
Brysch: Auch hier gilt: Wenn wir durch Schnelltests das Virus draußen ließen, würden wir für eine exorbitante Entlastung sorgen – für die stationäre wie für die häusliche Pflege, für Pflegerinnen und Pfleger. Den Millionen Menschen, die Pflege als Angehörige oder Pflegekräfte zu Hause leisten, müssen in das regelmäßiges wöchentliches Test-Monitoring anbieten. In jeder Stadt und in jedem Dorf, wenn möglich sogar aufsuchend. Dann sind die älteren Menschen, die zu Hause leben, weniger gefährdet. So kann die Zeit überbrückt werden, bis sie dann die Impfung bekommen.
Aber die Zeit drängt natürlich, das ist klar. Also fangen wir am besten mit zusätzlichen Kräften der Bundeswehr, der Not- und Katastrophendienste morgen an. Dann können wir auch Menschen ansprechen, die die Krise gerade in Kurzarbeit oder in die Arbeitslosigkeit geschickt hat. Vergessen dürfen wir auch nicht die Minijobber und studentischen Hilfskräfte, die jetzt nichts zu tun bekommen. Was wäre das für eine Bürgerbeteiligung. Super übrigens auch für das Verständnis der Generationen untereinander. Solche Erfahrungen sind unschätzbar.