Das deutsche Unternehmen Biontech lieferte als weltweit erstes einen Impfstoff gegen das Coronavirus. Die Impf-Strategie der EU fußte jedoch zunächst auf anderen Kandidaten. Nicht nur Biontech-Chef Ugur Sahin wundert das. Wie konnte es dazu kommen?
Wer den öffentlichen Verlautbarungen von Ursula von der Leyen folgt, der bekommt den Eindruck, dass es besser nicht laufen könnte in der Impfkampagne gegen das Coronavirus. Man habe entschieden, weitere 100 Millionen Dosen der deutschen Firma Biontech und des US-Pharmariesen Pfizer anzukaufen, verkündete die EU-Kommissionspräsidentin etwa am Dienstag auf Twitter. Und fügte hinzu: „Weitere Impfdosen werden folgen!“
Was von der Leyen nicht erwähnte: Die 100 Millionen Dosen waren schon Teil des ursprünglichen Deals, den die EU im November mit Biontech geschlossen hatte. Damals verpflichtete sich Brüssel zum Kauf von 200 Millionen Dosen, mit Option auf 100 weitere. Von „zusätzlichen Dosen“ kann daher nur bedingt die Rede sein – viele Medienberichte und Statistiken gingen seit jeher von insgesamt 300 Millionen gekauften Dosen aus.
Chaos, gleich am Anfang
Denn wieso sollte man auch nicht bei Biontech kaufen wollen? Eine hochprofessionelle Firma aus Deutschland, mit einem der größten Pharmaunternehmen der Welt im Rücken, das den klinischen Test seines Impfstoffs schon Monate vor der Konkurrenz erfolgreich abgeschlossen hatte, mit einem prognostizierten Wirkungsgrad von 95 Prozent. Sollte Europa dieser Firma nicht die Impfdosen aus der Hand reißen?
Das jedoch ist bis heute nicht geschehen. Die Bundesregierung musste zusätzlich zu den 55,8 Millionen Dosen, die ihr aus dem EU-Topf zustehen, auf eigene Faust noch 30 Millionen Dosen nachkaufen. Von der EU sind derzeit keine Pläne bekannt, nachzulegen. Die Folge: Nach dem Impfstart Ende Dezember sind in Deutschland die Dosen wieder knapp. Eine einzige ausgefallene Lieferung, die eigentlich am Montag eintrudeln sollte, reicht aus, um bundesweit für Alarm zu sorgen.
„Es wird alles nicht so schlimm“
Auch Ugur Sahin wundert sich. „Der Prozess in Europa lief sicherlich nicht so schnell und geradlinig ab wie mit anderen Ländern“, sagte der Biontech-Chef dem „Spiegel“ in einem Interview, das an Neujahr veröffentlicht wurde. „Offenbar herrschte der Eindruck: Wir kriegen genug, es wird alles nicht so schlimm, und wir haben das unter Kontrolle.“
Doch zumindest zum Impfstart hat Europa ganz offensichtlich nicht genug. Die europäische Impf-Strategie ist – zum Auftakt – in sich zusammengefallen. Warum?
Erstmal ein Papier erstellen
Die eigentliche Geschichte beginnt im Frühjahr 2020. Auf Druck von Deutschland, Frankreich und der Niederlande starten die europäischen Staaten, sich Gedanken über den Ankauf und die Verteilung potenzieller Impfstoffe zu machen.
Besonders wichtig: Die europäischen Staaten beschließen, gemeinsam auf EU-Ebene vorzugehen, keine nationalen Alleingänge. In Brüssel ist man sich bewusst, dass Verteilungskämpfe um den Impfstoff das ganze Staatenbündnis vor eine Zerreißprobe stellen könnten, und das noch im Brexit-Jahr. Niemand will sehen, wie Frankreich etwa Slowenien eine Lkw-Kolonne mit Impfdosen wegschnappt.
Also erarbeitet die EU-Kommission eine gemeinsame europäische Impfstoffstrategie, die im Juni fertig wird. In Zusammenspiel mit der betont gründlichen europäischen Arzneimittelagentur Ema ergibt das ein robustes Verfahren für Prüfung, Ankauf und Logistik, mit maximal möglicher Sicherheit für die Bürger. Aber eben auch: ein langsames Verfahren. Als die EU ihre Impfstoffstrategie vorstellt, haben die USA schon mit dem Einkaufen begonnen.
Biontech erst als Nummer vier
Doch auch die EU geht im Sommer auf Shopping-Tour: Im August bestellt die Kommission 300 Millionen Dosen beim britisch-schwedischen Konzern Astra-Zeneca. Im September folgen weitere 300 Millionen Dosen beim französisch-britischen Konglomerat Sanofi und GSK, im Oktober werden 200 Millionen Dosen beim belgischen Hersteller Janssen und der US-Pharmafirma Johnson & Johnson geordert.
Ein Hersteller fehlt jedoch zunächst auf der Einkaufsliste der EU: Biontech. Dort bestellt die EU erst im November 300 Millionen Dosen – als klinische Tests das ungeheure Potenzial des Impfstoffs aus Mainz gezeigt hatten. Später folgt noch eine Bestellung von 80 Millionen Dosen bei Moderna, das voraussichtlich als zweites Impfmittel seine Marktzulassung erhalten wird. Auch Curevac und Novavax werden in der Folge noch mit Bestellungen bedacht.
Das Sanofi-Desaster: Wenn die Säulen wegbrechen
Doch schon aus der Kauf-Reihenfolge wird ersichtlich, auf wen die EU im Sommer ihre größten Hoffnungen setzt: Astra-Zeneca und Sanofi. Selbst im November, als Biontech als erstes Unternehmen seinen Durchbruch verkündet, ändert Brüssel seinen Kurs nur unwesentlich. Die EU bestellt 300 Millionen Dosen, ein Angebot von Biontech zu einer größeren Bestellmenge soll sie aber abgelehnt haben.
Das rächt sich spätestens am 11. Dezember. Dort muss Sanofi einräumen, dass sein vielversprechender Impfstoff durch die dritte und letzte Phase der klinischen Tests gefallen ist. Die Franzosen müssen nochmal von vorne anfangen. Und bei den Briten von Astra-Zeneca gab es schon im Herbst Probleme, unter anderem dank nebulöser Studiendesigns. Plötzlich steht die EU nur noch mit zwei Impfstoffen da, die bald fertig werden: Moderna und Biontech. Die Säulen, auf die Brüssel stattdessen gesetzt hatte, sind weggebrochen.
Zeitleiste: Bekanntgabe Verträge mit Impfstoffherstellern der EU-Kommission
27.08.20: AstraZeneca-Vertrag: 300 Millionen Dosen Impfstoff + Option auf weitere 100 Millionen Dosen.
18.09.20: Sanofi–GlaxoSmithKline-Vertrag: bis zu 300 Millionen Dosen des Impfstoffs
8.10.20: Janssen/Johnson & Johnson-Vertrag: 200 Millionen Impfdosen + Option weitere 200 Millionen.
11.11.20: Biontech-Pfizer-Vertrag: 200 Millionen Impfdosen +Option weitere 100 Millionen
17.11.20: CureVac-Vertrag: 225 Millionen Impfdosen + Option weitere 180 Millionen Dosen
25.11.20: Moderna-Vertrag: 80 Millionen Impfdosen + Option für weitere 80 Millionen
11.12.20: Nachricht: Impfstoff von Sanofi und GlaxoSmithKline verzögert sich.
17.12.20: Novavax: geplante Vertrag 100 Millionen Dosen + Option auf weitere 100 Millionen Dosen.
„Das ist neunmalklug bis wohlfeil“
Zu einem gewissen Grad ist das Pech. Wer Impfstoffe bestellt, die sich noch in der Entwicklung befinden, kauft notgedrungen die Katze im Sack. „Erst in der letzten der drei entscheidenden klinischen Entwicklungsphasen stellen die Unternehmen unter Live-Bedingungen die Stärke des Impfschutzes fest“, sagte Rolf Hömke vom Verband der forschenden Arzneimittelhersteller (VfA) – ein Veteran der Industrie – zu FOCUS Online. „Das kann bei allen Impfstoff-Kandidaten passieren.“
Hinzu kommt, dass Biontech gewissermaßen als Überraschungssieger aus dem Impfstoff-Rennen hervorgegangen war. Noch im Sommer galten andere Hersteller als Favoriten, die deutsche Impfstoff-Hoffnung hieß Curevac, nicht Biontech. Er habe damals keinen einzigen Experten getroffen, der zu Biontech geraten hätte, sagte der CDU-Europaabgeordnete und Gesundheitsexperte Peter Liese zu FOCUS Online. „Es ist neunmalklug bis wohlfeil, im Dezember festzustellen, dass man im August etwas hätte anders machen sollen.“
Das Problem mit den minus 70 Grad
Es gab Gründe für diese Skepsis. Der Impfstoff von Biontech verwendet ein revolutionäres neues Verfahren, das in dieser Form noch nie angewandt wurde. Impfstoffe wie der von Astra-Zeneca funktionieren hingegen ähnlich wie Grippe-Impfstoffe. Das macht es leichter, das Potenzial einzuschätzen.
Und: Der Biontech-Impfstoff ist besonders aufwändig zu lagern, weil er immer auf 70 Grad minus gekühlt werden muss. Das sorgt für zusätzliche Probleme in der Logistik. Auch in Deutschland gab es schon Fälle, in denen der Mainzer Impfstoff zunächst nicht verwendet werden konnte, weil es Unterbrechungen in der Kühlung gab.
In Washington, wo Pharma-Partner Pfizer beste Lobby-Kontakte pflegt, stieß Biontech mit seinem Impfstoff leichter auf offene Ohren. Hätte die EU stärker auf die unerprobte Impf-Idee aus Mainz setzen sollen? Und hätte sie, vor allem, einfach mehr Dosen bestellen sollen, als klar war, dass Biontech das Rennen machen wird?
„Deutschland wird ausreichend Impfstoff bekommen“
Das ist die unangenehme Frage, der sich die EU jetzt stellen muss, im Januar 2021. Klar ist: Brüssel wollte ein möglichst gründliches und sicheres Verfahren schaffen. Einerseits um den impfskeptischen Teil der Bevölkerung zu beruhigen, der je nach Umfrage und Land zwischen 30 und 50 Prozent ausmacht. Und andererseits der europäischen Einheit willen. Diese Strategie hatte jedoch ihren Preis: Bestellungen – und somit auch die Lieferungen – gingen wesentlich langsamer vonstatten als außerhalb Europas.
Klar ist auch: Die EU wollte genügend Impfdosen kaufen, aber nicht im Übermaß. Bei einem kolportierten Preis von zwölf Euro pro Impfdose summiert sich eine zusätzliche Bestellung bei Biontech schnell auf Kosten von mehreren Milliarden Euro. Kosten, die am Ende der Steuerzahler tragen muss – und Dosen, die am Ende in anderen Ländern fehlen.
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hatte zuletzt am Mittwoch in der Bundespressekonferenz durchblicken lassen, wenn die EU zu viele Impfdosen gekauft hätte, ginge die Kritik in eine andere Richtung – warum Brüssel das Geld der Bürger zum Fenster hinauswirft. Auch deswegen lehnte die EU ab, als Biontech das Angebot zum Nachkauf übermittelt hatte.
Der mit so vielen Hoffnungen verbundene Impfstoff von Astra-Zeneca wird es vor Ende Januar nicht in die europäische Zulassung schaffen, bei den Franzosen von Sanofi ist jetzt Mitte 2021 als neues Datum angegeben – frühestens. Doch immerhin machte Biontech-Gründer Sahin in seinem Interview auch Mut. „Deutschland wird ausreichend Impfstoff bekommen“, sagte er dem „Spiegel“. Die Frage ist nur, wann.