“Rattenlinie Nord”: Wie sich der Mecklenburger Gestapo-Chef absetzte
30. April 2023Ludwig Oldach schickt Züge voller Menschen nach Auschwitz und lässt Zwangsarbeiter hinrichten. Doch wie viele NS-Verbrecher kommt er nach dem Krieg davon und findet in Flensburg eine Bleibe.
30. April 1945: Das Kriegsende ist in Sicht. Hunderttausende Menschen sind auf der Flucht. An diesem Tag sind SS-Führer Heinrich Himmler und 400 andere hochrangige Nationalsozialisten in einer Autokolonne auf der Fluchtroute nach Flensburg unterwegs, der “Rattenlinie Nord”. Die Kolonne macht auch Halt bei der Gestapo in Schwerin. Deren Chef, Ludwig Oldach, und sein gesamter Stab nutzen die Gelegenheit, wollen mit nach Flensburg.
Fluchtpunkt Flensburg
Eine Flucht ist das offiziell nicht. Die SS-Männer tarnen ihre Fahrt als “Dienststellenverlegung”. Als am 30. April 1945 die ersten britischen Panzer bei Lauenburg die Elbe überqueren, wird Flensburg zur letzten Reichshauptstadt: In Mürwik will Hitlers Nachfolger Großadmiral Karl Dönitz die NS-Regierung fortsetzen. Zu dieser letzten NS-Herrschaft auf einem schmalen Streifen Marinegebiet hat der Historiker Uwe Danker geforscht: “Weit über die Kapitulation hinaus hat die Dönitz-Regierung dort noch innenpolitische und außenpolitische Planung gemacht und ernsthaft geglaubt, sie seien Gesprächspartner für die Siegermächte. Dem war nicht so. Es war eine absurde Fußnote der Weltgeschichte.”
Oldach: Finanzbeamter und “Alter Kämpfer”
Auch Ludwig Oldach kommt Anfang Mai in Flensburg an. Mit dem “Führer” untergehen, das wollen er und auch Tausende andere SS-Männer nicht. Dabei ist Oldach ein Nationalsozialist der ersten Stunde, ein so genannter “Alter Kämpfer”: In den 1920er-Jahren arbeitet er zunächst als einfacher Finanzbeamter. Er tritt schon 1925 in die NSDAP ein. Nach 1933 macht er dann eine steile Karriere. Er kennt Heinrich Himmler gut, begleitet Gauleiter Friedrich Hildebrandt auf Propagandatouren nach Dänemark. Joseph Goebbels nennt ihn den “Kleinen König von Mecklenburg”.
Als Gestapo-Chef lässt Ludwig Oldach mecklenburgische Juden nach Auschwitz deportieren. Auf seinen Befehl werden zahlreiche polnische und ukrainische Zwangsarbeiter erhängt, weil sie angeblich sittenwidrigen Kontakt zu deutschen Frauen hatten. Oldach selbst fährt in die umliegenden Gemeinden und lässt die Hinrichtungen vor den Augen der Dorfbewohner vollstrecken, sagt der Schweriner Historiker Bernd Kasten: “So hat er Furcht und Schrecken in Mecklenburg verbreitet. Dieses Image des kleinen Beamten ist hier kein Widerspruch zu einem den Terror verbreitenden SS-Mann.”
Auf einem Bauernhof in Husby
Als die Dönitz-Regierung am 23. Mai 1945 – rund zwei Wochen nach der deutschen Kapitulation – schließlich doch von der britischen Armee verhaftet wird, ist Ludwig Oldach nicht darunter. Lange ist er offenbar nicht in Mürwik geblieben. Doch im Gegensatz zu Hunderten anderen habe der SS-Mann auch nicht versucht, mit einer gefälschten Wehrmachtsidentität unterzutauchen, sagt Historiker Uwe Danker: “Er hat etwas gemacht, was fast eigenartig wirkt, wenn man daran denkt, dass sich hier viele 10.000 Menschen aufgehalten haben und irgendwie Obdach finden mussten: Oldach sucht sich tatsächlich eine Bleibe und findet sie vorübergehend in einem Nachbardorf, in Husby bei einem Bauern. Dort hat sich, das muss ich mir so vorstellen, Familie Oldach einfach eingemietet.”
Bei einer regulären Kontrolle wird Oldach dann am 6. Juni 1945 doch von britischen Soldaten verhaftet, gibt sich offen als Gestapo-Chef zu erkennen und wartet anschließend im Internierungslager auf einen Prozess, wie insgesamt 80.000 andere führende Nationalsozialisten aus Polizei und Verwaltung.
Schnelle Verfahren in britischer Zone
In der britischen Besatzungszone werden sogenannte Spruchgerichtsverfahren durchgeführt. Wer jenen NS-Organisationen angehörte, die das Nürnberger Urteil für verbrecherisch erklärt hatte, konnte allein deshalb verurteilt werden. Auch wer nachweislich Kenntnisse vom Holocaust hatte, soll schnell und rechtsstaatlich bestraft werden können. Ludwig Oldach wird als Gestapo-Chef 1948 zu drei Jahren Haft verurteilt. Die sind aber durch seine Internierung bereits abgegolten.
Oldachs Schutzbehauptung vor Gericht: Er habe zwar die mecklenburgischen Juden deportiert, aber nicht gewusst, dass sie in Auschwitz ermordet wurden. Eine Lüge, sagt Bernd Kasten: “Natürlich hat der Leiter einer Gestapo-Stelle als ziemlich ranghoher Beamter gewusst, was mit den Juden in Auschwitz passiert. Aber: Das musste man ihm beweisen. Das hätte man vielleicht sogar gekonnt, aber die Ermittlungen wurden damals nicht besonders energisch geführt.”
Verjährter Totschlag oder Mord?
Erst zehn Jahre später, auch durch eine Kampagne der DDR gegen NS-Verbrecher, wird die Lübecker Staatsanwaltschaft aufmerksam und beginnt, neu gegen Oldach zu ermitteln. Diesmal geht es um die Hinrichtung der Zwangsarbeiter. Die zentrale juristische Frage: War die Hinrichtung Totschlag und damit verjährt – oder war es Mord, der nicht verjährt?
Die Staatsanwälte der Zentralen Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg koordinieren damals bundesweit die Verfahren. Sie schreiben mehrfach an den Generalstaatsanwalt in Schleswig-Holstein und fordern, weiter gegen Oldach wegen Mordes zu ermitteln. Er habe die Zwangsarbeiter aus Rassenhass und damit aus einem niederen Motiv hinrichten lassen. Die Staatsanwaltschaft Lübeck ignoriert die Hinweise – und stellt das Verfahren 1966 ein.
“Staatsanwaltschaften sind kleine Trupps an den jeweiligen Landgerichten, die jeweils ein eigenes Klima entwickeln”, erklärt Uwe Danker. “Aber grundsätzlich hat die bundesdeutsche Justiz in der Ahndung von NS-Gewaltverbrechen, sobald es sich um Akteure aus den gesellschaftlichen Eliten, Verwaltungs- und Funktionseliten drehte, generell versagt.” Das ist ein Grund dafür, warum Ludwig Oldach auch 1966 nichts mehr zu befürchten hatte. Bis zu seinem Tod 1987 lebt er unbehelligt in Flensburg. Damit wurde der überzeugte Nationalsozialist und Gestapo-Chef nie zur Verantwortung gezogen – wie so viele NS-Verbrecher.