Präsidentenwahl in der Türkei Entscheidung fällt wohl in Stichwahl
15. Mai 2023Bei der Präsidentenwahl in der Türkei liegt Amtsinhaber Erdogan vorn – aber zum Sieg im ersten Wahlgang wird es wohl nicht reichen. Die Wahlbehörde sah ihn nach Auszählung fast aller Stimmen knapp unter 50 Prozent, seinen Herausforderer Kilicdaroglu bei knapp 45 Prozent.
Das Rennen um die Präsidentschaft in der Türkei verläuft erwartungsgemäß äußerst knapp. Die Wahlbehörde sah Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan nach Auszählung von 99 Prozent der Stimmen bei 49,4 Prozent der Stimmen. Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu, gemeinsamer Kandidat eines Sechser-Bündnisses, liegt demnach bei 44,96 Prozent.
Bleibt es dabei, hätte keiner der beiden Kandidaten die nötige absolute Mehrheit – Erdogan und Kilicdaroglu müssten am 28. Mai in einen zweiten Wahlgang.
Stichwahl nach der Präsidentenwahl in der Türkei erwartet
Beide Kandidaten siegesgewiss
Erdogan erklärte in der Nacht vor jubelnden Anhängern in Ankara, er liege klar vor seinem Herausforderer. Wenn es zur Stichwahl komme, sei er bereit: „Wir wissen noch nicht, ob die Wahl in der ersten Runde zu Ende sein wird, aber wenn die Menschen uns in eine zweite Runde schicken, werden wir das auch respektieren“, so Erdogan.
Auch Kilicdaroglu trat gemeinsam mit den Parteichefs seines Sechser-Wahlbündnisses vor die Presse. „Erdogan hat trotz seiner Diffamierungen und Beleidigungen nicht das Ergebnis erreicht, das er sich erwartet hatte“, sagte er. Die Opposition werde gewinnen und dem Land Demokratie bringen. Sollten die Ergebnisse des ersten Wahlganges eine Stichwahl nötig machen, „werden wir die zweite Runde unbedingt gewinnen“, sagte Kilicdaroglu. „Der Wille in der Gesellschaft zur Veränderung ist höher als 50 Prozent“, fügte er hinzu.
Kilicdaroglu in Vorwahlumfragen vorne
Das gute Abschneiden Erdogans kommt überraschend, denn in Vorwahlumfragen hatte dieser zuletzt hinter Kilicdaroglu gelegen. Die Wahlbeteiligung in der Türkei ist traditionell hoch, vor Wahllokalen bildeten sich heute lange Schlangen. Stimmberechtigt waren bei der Präsidenten- und Parlamentswahl mehr als 64 Millionen Menschen, darunter 1,5 Millionen in Deutschland lebende Türkinnen und Türken.
„Von dem, was wir hören, war zumindest in Deutschland die Wahlbeteiligung so hoch wie noch nie“, sagte der Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul, Kristian Brakel, auf tagesschau24. „Und, das wissen wir aus der Vergangenheit, diejenigen Deutschtürken, die zur Wahl gehen, die wählen auch mit Masse tatsächlich die AKP.“
Manipulationsvorwürfe in Internetvideos
In der Türkei wurden rund 192.000 Wahlurnen aufgestellt. Hunderttausende Beobachter von Regierung und Opposition waren im Einsatz. Der Chef der türkischen Wahlkommission YSK hatte am Nachmittag mitgeteilt, die Wahl sei ohne größere Zwischenfälle verlaufen. Die Nachrichtenagentur Anadolu zitierte ihn mit den Worten: „Bis jetzt verliefen die Wahlen ohne Probleme.“
In Internetvideos wurden jedoch Manipulationsvorwürfe erhoben: Darin ist etwa zu sehen, wie jemand den Wahlstempel scheinbar reihenweise bei Präsident Erdogan von der AKP setzt – in der Türkei werden Wahlzettel gestempelt und nicht von Hand ausgefüllt. Ein weiteres Video zeigt, wie jemand auf mehreren Stimmzetteln Erdogans AKP markiert. Wahlbeobachter der CHP sollen bei der türkischen Wahlbehörde Einspruch eingelegt haben.
„Der Präsident benutzt seine Machtposition“
Die prokurdische Oppositionspartei HDP bestätigte der Nachrichtenagentur dpa zudem einen Medienbericht, wonach im südosttürkischen Mardin Wahlbeobachter der Schwesterpartei YSP angegriffen wurden. Es sei zum Streit gekommen, nachdem Beobachter mehr als einem Familienmitglied den Zutritt zur Wahlkabine verweigert hätten.
Laut Brakel hat es solche Zwischenfälle auch schon bei vergangenen Wahlen gegeben – vor allem im Südosten des Landes. Den meisten Menschen sei es in der Regel aber möglich, ihre Stimme am Wahltag „relativ frei“ abzugeben. Unfair gestalte sich hingegen der Wahlkampf: „Der Präsident bekommt natürlich sehr viel mehr Zeit in dem größten Teil der regierungsgesteuerten Medien zugestanden. Er benutzt seine Machtposition, die Gelder, die ihm zur Verfügung stehen, um Wahlgeschenke zu machen“, sagte Brakel auf tagesschau24.
Erdogan hat so viel Macht wie noch nie
Seit der Einführung eines Präsidialsystems vor fünf Jahren hat der 69 Jahre alte AKP-Politiker Erdogan so viel Macht wie noch nie und kann weitestgehend am Parlament vorbei regieren. Kritiker befürchten, dass das Land mit rund 85 Millionen Einwohnern vollends in die Autokratie abgleiten könnte, sollte er erneut gewinnen. Auch international wird die Abstimmung in dem NATO-Land aufmerksam beobachtet.
Herausforderer Kilicdaroglu gilt als besonnener Politiker. Er stammt aus der osttürkischen Provinz Tunceli und gehört der religiösen Minderheit der Aleviten an. Der Oppositionsführer will die Unabhängigkeit von Institutionen wie der Zentralbank wiederherstellen und die hohe Inflation in den Griff bekommen. Er steht für eine Wiederannäherung an Deutschland und die EU, aber auch für eine schärfere Migrationspolitik.