DDR-Dopingopfer: „Ich lebe gerade so über der Wasserkante“
26. Juni 2023Die Schwimmerin Ivonne Hahn wurde wie tausende Minderjährige in der DDR ohne ihr Wissen gedopt. Eine Studie an der Uni Rostock untersucht nun, unter welchen Langzeitfolgen Dopingopfer wie sie leiden.
Ivonne Hahn erinnert sich genau an den Tag im Frühjahr 1988 an dem ihr Trainer ihr zum ersten Mal Tabletten gibt. Sie ist damals zwölf Jahre alt. Im Trainingslager, so erzählt sie es 35 Jahre später, habe sie schon beim Aufstehen Angst vor dem Pensum am Tag gehabt. Der Trainer, zu dem sie ein enges Verhältnis hat, verspricht dem Mädchen, durch die Tabletten würde das Training leichter. Ihre Muskeln würden nicht so schnell übersäuern. Sie glaubt ihm: „Ich war überrascht und freudig zugleich“, erinnert sie sich. Sie sieht die Tabletten als Belohnung, die den meisten anderen Mädchen in ihrer Gruppe verwehrt bleibt. Heute weiß sie, dass in den gelben Pillen bereits Methenolon enthalten war, ein anaboles Steroidhormon, das bei der Zwölfjährigen für massives Muskelwachstum sorgen sollte.
„Durch die Trainingsmethodik geknackt“
Damals hat Ivonne Hahn schon sechs Jahre hartes Training hinter sich. Sie beginnt in der ersten Klasse zu schwimmen: Von dem großen, kräftigen Kind versprechen sich die Trainer Leistung. Schon am Ende der Grundschulzeit trainiert sie täglich. Mit der fünften Klasse muss sie auf die Kinder- und Jugendsportschule wechseln – gegen ihren Willen: „Meine Eltern haben mich dann auch immer schon fast beschimpft, wenn ich geweint hab“, erinnert sie sich: „Dass ich doch zufrieden und glücklich sein sollte, dass ich das geschafft habe. Andere Kinder würden sich das wünschen.“ Die Schwimmerinnen sind zwei Mal täglich im Becken, hinzu kommen Krafteinheiten: insgesamt sechs Stunden, im Trainingslager noch länger, manchmal bis 23 Uhr nachts. „Man wird im Kopf durch die Trainingsmethodik geknackt. Der Charakter wird so umgeformt, dass man es versteht sich selbst zu massakrieren“, sagt Ivonne Hahn heute. Mit 13 Jahren schwimmt sie ein Tagespensum von 22,7 Kilometern.
Athleten stoßen auf Unverständnis bei Ärzten
Nach dem Ende ihrer Sportler-Karriere 1994 beschäftigt sie sich 15 Jahre lang nicht mehr mit ihrer Vergangenheit, will zurück ins normale Leben finden. 2010 diagnostizieren Ärzte eine ausgeprägte Osteoporose. Der Knochenschwund betrifft besonders Schulter- und Handgelenke, Brust und Lendenwirbelsäule. Bei der Diagnose ist sie 35 Jahre alt. Später wird sie von ihrem Hausarzt unter anderem von ihren Leberwerten erfahren: „Der sagte: Anhand dieser Werte könnte man wirklich denken, dass Sie jeden Tag mindestens eine Flasche Schnaps trinken.“ Hinzu kommen Kreislaufprobleme, ein extrem niedriger Ruhepuls und Blutdruck, Untertemperatur. Auch psychisch hat die Zeit im Hochleistungssport Spuren hinterlassen: Fast 10 Jahre Therapie liegen mittlerweile hinter der Athletin. Immer wieder sei sie bei Medizinern aber auch auf Unverständnis gestoßen: „Es hat wirklich eine Ärztin wortwörtlich zu mir gesagt: Frau Hahn, wir leben nicht in der Retrospektive. Ich untersuche sie jetzt, und was sie jetzt haben, das haben Sie. Und seien Sie froh, dass es nicht noch schlimmer ist.“
Forscher fordern bessere medizinische Netzwerke
Diana Krogmann kennt solche Berichte. Die Psychologin arbeitet an der Uni Rostock an einem Forschungsprojekt zu körperlichen und psychischen Langzeitfolgen des DDR-Leistungssportsystem. Die Wissenschaftler suchen dafür auch weiterhin Betroffene, die ihre Lebensgeschichte schildern. Bislang zeigten die Gespräche, dass sowohl Betroffene als auch Ärzte häufig keinen Zusammenhang zwischen Krankheiten und Sportlerkarriere herstellen, sagt Diana Krogmann. Ein „eng verzahntes Gesundheitsnetzwerk“, so Krogmann, sei deshalb das wichtigste für die Athletinnen und Athleten: „Wenn die Fachrichtungen enger verzahnt werden oder eine Übergabe besser erfolgen würde, könnte auch eine Behandlung schneller und am Stück erfolgen.“
Tabletten nach 35 Jahren analysiert
Ivonne Hahn versucht, ihre Geschichte für sich selbst aufzuarbeiten. Sie wolle aber auch aufrütteln, sagt sie, immer wieder auf das DDR-Staatsdoping aufmerksam machen. Auch deshalb hat sie an der Rostocker Studie teilgenommen. Dort berichtete sie von einer Tagesdosis Tabletten, die sie 1989 während eines Trainingslagers vergaß zu nehmen und seitdem über 30 Jahre in einem Karton mit Trainingsanzügen und Badekappen aufbewahrte. Die Forscher schickten die Tabletten ins Labor. Obwohl die Schwimmerin zu diesem Zeitpunkt bereits wusste, dass sie wenige Jahre später unter anderem „Oral Turinabol“ bekommen hatte, hoffte sie lange, dass diese ersten Mittel tatsächlich nur „Vitamine“ waren: „Ich hatte solches Vertrauen zu diesem Trainer“, sagt sie heute. „Auch jetzt in der Aufarbeitung dachte ich immer: Das wird der mir nicht gegeben haben.“ Heute gibt es Gewissheit: Schon vor der Pubertät, mit 12 Jahren, verabreichte der Trainer Ivonne Hahn anabole Steroide. Sie hofft, dass ein Hormon-Spezialist aus der nun ermittelten Dosis Rückschlüsse darauf ziehen kann, wie sich die Substanz auf ihren jungen Körper ausgewirkt hat.
Athletin: Opferrente würde helfen
„Ich lebe gerade so über der Wasserkante“, sagt Ivonne Hahn über ihr Leben heute. Helfen würde ihr vor allem eine Opferrente und dass sie von Ärzten auch ernstgenommen wird: „Damit man noch was für seinen Körper tun kann.“ Ihre Kindheit im DDR-Leistungssport habe ihr „immens viel Lebensenergie geraubt.“ Immerhin durch die psychologische Behandlung könne sie mit den Folgen aber umgehen: „Ich habe gelernt mich zu analysieren und zu reflektieren, so dass ich mich im Leben über Wasser halten kann“, meint sie „Nicht mehr. Aber auch nicht weniger.“