Unaufklärbar? Das tödliche Versagen von Bad Kleinen

Unaufklärbar? Das tödliche Versagen von Bad Kleinen

27. Juni 2023 Aus Von mvp-web
Stand: 27.06.2023 05:00 Uhr

Heute vor 30 Jahren starben bei einem missglückten Einsatz auf dem Bahnhof Bad Kleinen der mutmaßliche RAF-Terrorist Wolfgang Grams und ein GSG9-Beamter. Bis heute steht der Fall für das Versagen von Behörden.

Die beiden Todesopfer des missglückten GSG9-Einsatzes in Bad Kleinen am 27. Juni 1993: Michael Newrzella und Wolfgang Grams. Der eine ist Beamter der Spezialgruppe GSG9. Der andere ein mutmaßlicher Terrorist der Rote Armee Fraktion (RAF). Jahrelang halten sich Vorwürfe und Gerüchte über eine angebliche Hinrichtung des Verdächtigen. Vollständig aufgeklärt werden die Vorgänge nie. Damit steht der Vorfall auch fast drei Jahrzehnte nach den tödlichen Schüssen auf dem Bahnsteig von Bad Kleinen bis heute für ein schweres Versagen der beteiligten Behörden und Einsatzkräfte.

Die RAF und die Vorgeschichte von Bad Kleinen

 Die Rote Armee Fraktion – Seit 1970 hielt sie die Bundesrepublik in Atem. 1993 war die dritte Generation aktiv.

Wie es dazu kam? Im Frühsommer 1993 scheint die RAF langsam in die Bedeutungslosigkeit zu verschwinden. Ein Jahr zuvor hatte sie in einem Schreiben den Verzicht auf weitere Mordanschläge erklärt. Doch am 27. März 1993 sprengen unbekannte Täter das brandneue Gebäude des Gefängnisses Weiterstadt bei Darmstadt. 123 Millionen D-Mark Schaden entstehen, Menschen werden nicht verletzt. Die RAF bekennt sich zu dem Sprengstoffanschlag. Es ist die sogenannte dritte Generation der RAF. Den Kampf hat sie noch nicht aufgegeben.

Die „Meisterleistung“ des verdeckten Ermittlers

Was zu diesem Zeitpunkt kaum einer weiß: Den Ermittlungsbehörden ist es gelungen, einen V-Mann in die RAF einzuschleusen. Klaus Steinmetz, seit Jahren in der linken Szene aktiv, berichtet dem Verfassungsschutz seit 1992 regelmäßig von Treffen mit RAF-Mitgliedern. „Das war eine Meisterleistung“, schwärmt der damalige Leiter der Abteilung für Terrorismusbekämpfung im BKA, Rainer Hofmeyer, noch Jahre später. Eine Meisterleistung, die in einer Katastrophe endete.

Stichwort: RAF

Operation „Weinlese“ und die RAF im Urlaub

Als die Verfassungsschützer hören, dass Steinmetz sich im Juni 1993 mit Birgit Hogefeld in Bad Kleinen treffen will, entschließt sich der Generalbundesanwalt Alexander von Stahl zum Zugriff. Hogefeld gilt zusammen mit Wolfgang Grams als Spitze der dritten Generation der RAF. Und diese Generation wird verantwortlich gemacht für Morde an neun Menschen. Unter dem Decknamen „Weinlese“ untersuchen BKA, Verfassungsschutz und Staatsanwaltschaft, wo und wie man Hogefeld festnehmen kann. Steinmetz und Hogefeld planen einen Kurz-Urlaub in Wismar. Dort soll der Zugriff erfolgen. Der Bahnhof in Bad Kleinen wird ebenfalls in Betracht gezogen – und wieder verworfen. Zu unübersichtlich, zu gefährlich.

Der Tag des Einsatzes

Am 27. Juni 1993 stehen knapp 100 Polizisten bereit, von normalen Beamten bis hin zu Spezialisten der GSG9. Diese sollen Hogefeld und zum Schein auch V-Mann Steinmetz auf dem Weg zum Bahnhof in Wismar aus einem Kleinbus heraus überwältigen. Über eine Wanze, die sie Steinmetz untergeschoben haben, hört der Einsatzleiter Jürgen Peter, wie Birgit Hogefeld erwähnt, dass sie heute noch Freunde treffen will. Sekunden vor dem Zugriff entscheidet Peter: Abwarten! „Letztlich bin ich verantwortlich für den Tod dieser zwei Menschen“, sagt Peter Jahre später in der Dokumentation „Endstation Bad Kleinen“ von Anne Kauth.

Tödlicher Einsatz in Bad Kleinen: Eine Chronologie

Zugriffsort doch Bad Kleinen

Denn nun müssen die Einsatzkräfte in Windeseile einen neuen Plan aufstellen – nach Monaten der Planung. Der Zugriff soll nun doch auf dem Bahnhof in Bad Kleinen erfolgen. Dort warten am Mittag Hogefeld und Steinmetz in einer Gaststätte auf diese „Freunde“. Gegen 14 Uhr holt Hogefeld einen Mann vom Bahnsteig 1/2 ab. Es ist Wolfgang Grams. Die Ermittler können ihn zunächst nicht identifizieren. Zu dritt essen Hogefeld, Steinmetz und Grams in der Gaststätte „Billard-Café“ eine Kleinigkeit. Die BKA-Spitze entscheidet: Zugriff beim Verlassen des Lokals.

Das Wort „wenn“

Die 37 GSG9-Männer unter den 100 Polizisten sollen den Zugriff in der Unterführung zu den Gleisen leisten. Alle Fluchtwege sind versperrt. Als das Trio schließlich aufbricht, kommt es zu einer folgenschweren Panne: Ein GSG9-Mann auf dem Bahnsteig 4/5 hört über Funk die Durchsage „Zugriff erfolgt …“ und läuft die Stufen hinab zur Unterführung. In diesem Moment ist der Zugriff jedoch noch nicht geschehen.

Wie viele „Freunde“ waren in Bad Kleinen?

Die Anweisung lautete „Wenn der Zugriff erfolgt“ mit dem Zusatz, ein verdächtiges Fahrzeug vor dem Bahnhof zu kontrollieren. Der Beamte läuft dem RAF-Trio beinahe in die Arme. Der Fluchtweg nach oben auf das Gleis 4/5 ist somit unbewacht.

Zehn Sekunden auf einem Bahnhof in Mecklenburg

Der Zugriff ist jedoch nicht mehr zu stoppen. Sieben GSG9ler stürzen auf Hogefeld, Grams und Steinmetz zu. Hogefeld und Steinmetz werden augenblicklich überwältigt. Grams reagiert blitzschnell, entzieht sich dem Zugriff und flieht zum Bahnsteig 4/5 hinauf. Hinter ihm ein halbes Dutzend Beamter, ganz vorne Michael Newrzella. Auf dem Bahnsteig angekommen zieht Grams seine Waffe und feuert auf seine Verfolger. Die feuern zurück. Zehn Schüsse gibt Grams ab, 33 die GSG9-Männer. Zwei von ihnen brechen getroffen zusammen. Newrzella wird von vier Kugeln getroffen; er ist 25 Jahre alt und stirbt wenig später an seinen Verletzungen. Auch Grams ist mehrfach getroffen. Er stürzt rücklings auf das Gleis und bleibt dort liegen. Auch er stirbt an seinen Schussverletzungen. Nach gut zehn Sekunden ist alles vorbei.

Wer erschoss Wolfgang Grams?

Wolfgang Grams starb offiziellen Angaben zufolge an einem Nahschuss in die Schläfe. Schnell kommt das BKA zu der Annahme: Suizid. Doch immer mehr Ungereimtheiten sorgen für Spekulationen: Eine Kiosk-Verkäuferin auf dem Bahnsteig will gesehen haben, dass die Beamten aus nächster Nähe auf Grams geschossen haben. Ein anonymer Polizeibeamter berichtet dem „Spiegel“-Autor Hans Leyendecker von einem gezielten Nahschuss der GSG9-Männer auf Grams. Zudem sagt keiner von Dutzenden Polizisten aus, er habe Grams den Selbstmord tatsächlich begehen sehen. Im Gegenteil: Die verfolgenden GSG9-Männer wollen Grams in den entscheidenden Sekunden nicht im Blickfeld gehabt haben.

Eltern des getöteten Beamten werden bedroht

Auch völlig Unschuldige geraten in den Konflikt. So müssen die Eltern des getöteten Beamten Newrzella jahrelang mit Anfeindungen aus der linken Szene leben. Aktivisten drohen damit, den Leichnam des Polizisten auszugraben und „auf den Müll“ zu werfen. Ihr Sohn wird zudem immer im gleichen Atemzug mit dem Terrorverdächtigen genannt. Für die Regierung ist Newrzella ein Symbol für den Angriff auf den Staat. Selbst Bundesinnenminister Rudolf Seiters (CDU) kommt zur Beerdigung. Es wird eine seiner letzten Amtshandlungen sein.

Bundesinnenminister tritt zurück

Bis heute ist unklar, wie viele Beamte auf der Treppe oder vom gegenüberliegenden Bahnsteig aus den Vorgang beobachteten. Neben dem erfolglosen Versuch, die Existenz des V-Mannes Steinmetz zu vertuschen – schon wenige Stunden später berichten die Medien über einen dritten Mann – fachen die Behörden durch immer widersprüchlichere Aussagen die Spekulationen weiter an. Der „Spiegel“ spricht von einer „Tötung wie eine Exekution“ (Heft 27/1993). Seiters reicht seinen Rücktritt ein. Es ist der erste von insgesamt zehn Rücktritten infolge der Operation „Weinlese“. Der Generalbundesanwalt wird des Amtes enthoben und auch im Bundeskriminalamt werden hohe Beamte zwangsversetzt.

GSG9-Aussagen „gänzlich abwegig“?

Nicht die einzige Panne: Die Kugel des tödlichen Nahschusses wurde nie gefunden.

Mehrere Untersuchungen sollen für Klarheit sorgen. Die Staatsanwaltschaft Schwerin verhört die beiden GSG9-Beamten, die Grams auf dem Gleis gestellt hatten, und kommt zu dem Ergebnis, dass die Aussagen zum Teil „gänzlich abwegig“ seien. Teilweise stellten sich die Einlassungen der Zeugen als „erdichtet“ heraus, so der Abschlussbericht aus Schwerin.

Als unabhängige Behörde wird die Staatsanwaltschaft Zürich hinzugerufen, um den Tod von Grams zu untersuchen. Die Schweizer Gutachter bestätigen zwar Grams‘ Waffe als Tatwaffe. Ein Selbstschuss sei plausibel. Eine Schramme an Grams‘ Hand bringt die Experten aber dazu, ein gewaltsames Entwenden der Waffe aus der Hand nicht auszuschließen.

Pannen, Vertuschungen und unverlässliche Zeugen

Weitere peinliche Pannen behindern die endgültige Aufklärung: Mögliche Schmauchspuren an der Hand von Wolfgang Grams hätten beweisen können, ob er die Waffe beim Nahschuss in der Hand hielt. In der Pathologie hatte man jedoch die Hand des noch nicht eindeutig identifizierten Grams gereinigt, um Fingerabdrücke nehmen zu können, und somit wichtige Spuren unwiederbringlich vernichtet. Das Projektil, das Grams tötete, wurde trotz intensiver Suche nie gefunden.

Hogefelds Waffe blieb zunächst unbemerkt

Die Behörden behaupten tagelang, Hogefeld habe das Feuer eröffnet, die Beamten hätten das Feuer lediglich erwidert. Schnell stellt sich heraus: Hogefelds Waffe wurde nie gezogen. Im Gegenteil: Sie wurde erst eine halbe Stunde später bemerkt, als die RAF-Frau bereits mit Handschellen im Polizeiauto saß. Die Kiosk-Verkäuferin ändert ihre Aussage mehrfach. Im Abschlussbericht wird ihr keinerlei Bedeutung mehr beigemessen. Auch der „Spiegel“-Zeuge hält Nachuntersuchungen nicht stand. Autor Leyendecker selbst rückt später von seiner Darstellung ab.

Fingerabdrücke und ein Haar

Bis heute hat die Polizei nur wenig Beweise gegen Wolfgang Grams in der Hand. 1985 entdeckte die Polizei eine konspirative Wohnung der RAF in Tübingen. Dort fanden sich neben anderen Spuren auch Fingerabdrücke von Grams. 2001, acht Jahre nach seinem Tod, wird er schließlich konkret mit einem Verbrechen der RAF in Verbindung gebracht. Mithilfe neuer DNS-Analyse können Spezialisten ein Haar, das am Tatort der Ermordung von Detlev Rohwedder im Jahre 1991 gefunden wurde, Grams zuordnen. Wolfgang Grams wurde von der Bundesanwaltschaft explizit nicht als Tatverdächtiger eingestuft. Dazu reichte das Haar nicht aus.

Vorgänge in Bad Kleinen „nicht aufklärbar“

Klaus Steinmetz lebt unter falschem Namen und Polizeischutz bis heute im Ausland. Birgit Hogefeld wurde im November 1996 vom Oberlandesgericht Frankfurt am Main wegen Mordes, versuchten Mordes und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Im Juni 2011 wurde Hogefeld als letztes inhaftiertes RAF-Mitglied aus der Haft entlassen. Eine Klage auf Schadenersatz der Eltern von Wolfgang Grams weisen insgesamt fünf Instanzen zurück, zuletzt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, da die genauen „Tathergänge nicht aufklärbar“ seien.

Trotz langwieriger akribischer Untersuchungen ist nie ans Licht gekommen, was in Bad Kleinen wirklich geschah.