Spahn ignorierte Virologen-Warnung

7. Januar 2021 Aus Von mvp-web

17:06:08
Kurz vor Ausbruch der Corona-Pandemie forderten Fachleute vom Gesundheitsminister, die Überwachung von Virus-Mutationen zu verbessern. Laut NDR, WDR und SZ gab es keine Antwort – nun fehlen wichtige Daten.

Von Markus Grill, NDR/WDR

In Großbritannien wird seit Wochen ein verändertes Coronavirus beobachtet, das sich offenbar deutlich schneller ausbreitet als die bisherigen Varianten. So tragen im Großraum London bereits die meisten Neuinfizierten diese Variante in sich. Die Briten können das genau beobachten, weil sie umfangreich die Veränderungen des Coronavirus überwachen. So wird etwa jeder 15. positive Corona-Test einer so genannten Genom-Sequenzierung unterzogen. Das ist eine Analysemethode, die es ermöglicht, Veränderungen im Bauplan des Virus zu entdecken.

In Deutschland wurde im Vergleich nur knapp jeder 900. positive Corona-Test entsprechend analysiert. Die Folge: Deutschland weiß bis heute nicht, in welchem Ausmaß sich die neue Corona-Mutation auch hierzulande bereits verbreitet hat, weil die entsprechende Überwachung nur äußerst lückenhaft stattfindet. Die europäische Seuchenbehörde ECDC rät dringend dazu, jetzt mehr zu sequenzieren, um die Ausbreitung der neuen Mutation zu kontrollieren und damit verlangsamen zu können

„Miserabel“ in der molekularen Überwachung des Virus

Während in Großbritannien bereits mehrere tausend Fälle der neuen Mutation dokumentiert sind, sind es in Deutschland nach Angaben des Robert Koch-Instituts vier. „Wir sind in Deutschland, was die molekulare Überwachung des Coronavirus angeht, wirklich miserabel“, sagt der Leiter der Virologie der Universität Freiburg, Hartmut Hengel: „Wir sequenzieren ohne repräsentative Probenerfassung auf dem Niveau eines Entwicklungslandes.“ Wäre die neue Mutation in Deutschland ausgebrochen, hätte seiner Ansicht nach viel Zeit vergehen können, ohne dass sie bemerkt worden wäre.

Dabei hatten Fachleute schon vor der Pandemie gewarnt. Bereits am 19. November 2019, zwei Monate vor Ausbruch der Pandemie, wandte sich die Gesellschaft für Virologie gemeinsam mit der Deutschen Gesellschaft für Hygiene und Mikrobiologie in einem dringenden Schreiben an Gesundheitsminister Jens Spahn.

Der Brief liegt NDR, WDR und „Süddeutscher Zeitung“ vor. Darin heißt es: Ein „ministerielles Eingreifen“ von Jens Spahn sei „unausweichlich geworden“. Die Virologen und Mikrobiologen warnten den Gesundheitsminister, dass „ein beträchtlicher Teil der aktuell berufenen Expertenlabore seine Aufgaben nicht mehr erfüllen kann“. Bei einem Ausbruchsgeschehen fehlten deshalb „die Möglichkeiten der molekularen Surveillance“, also der Überwachung mittels eines genetischen Fingerabdrucks.

Nach Informationen von NDR, WDR und SZ hat Spahn bis heute, also mehr als ein Jahr später, nicht auf diese Mahnung der Virologen reagiert. Fragen dazu ließ Spahns Gesundheitsministerium bis Redaktionsschluss unbeantwortet.