Blutspur: Wie ein Doppelmord auf Rügen Rechtsgeschichte schrieb
8. September 2023Bluttests als Beweismittel: Heute vor 120 Jahren wurden sie erstmals an deutschen Gerichten zugelassen. Möglich machte es eine Erfindung des Greifswalder Wissenschaftlers Paul Uhlenhuth. Seine Methode löste ein großes Problem der Kriminalistik und einen spektakulären Kriminalfall auf Rügen.
Am Abend des 1. Juli 1901 durchkämmen Helfer der Freiwilligen Feuerwehren aus mehreren Orten auf der Insel Rügen ein Waldstück bei Göhren. Sie suchen nach Franz und Hermann Grawert. Die beiden fünf und sieben Jahre alten Jungen sind nicht vom Brombeerpflücken zurückgekommen. Am nächsten Morgen wird ein Verdacht zur schrecklichen Gewissheit: Beide Kinder sind tot. „Sie wurden ermordet und schrecklich verstümmelt aufgefunden. Die Leiche des kleineren Knaben war gänzlich zerstückelt“, schreibt die „Stralsundische Zeitung“ in ihrem Bericht. Sie veröffentlicht auch verstörende Details vom Tatort. Organe und abgetrennte Gliedmaßen der Opfer sind dort in einem Umkreis von etwa 500 Metern verstreut.
„Bestie in Menschengestalt“?
Ein Tatverdächtiger ist schnell gefunden: Der Tischlergeselle Ludwig Tessnow wird am Ostseestrand bei Binz aufgegriffen. Er lebt noch nicht lange auf Rügen. Was den 29-Jährigen verdächtig macht: viele rote Flecken auf seiner Kleidung. Tessnow behauptet bei seiner Verhaftung, dass es Tischlerbeize sei. Die „Stralsundische Zeitung“ glaubt ihm nicht: „Es ist ganz unzweifelhaft, dass der Verhaftete der Mörder ist. Zweifelhaft ist nur, ob man es mit einer Bestie in Menschengestalt oder mit einem Wahnsinnigen zu tun hat.“ Tessnow wird zunächst im Gerätehaus der Binzer Feuerwehr eingesperrt, später mit einer Kutsche zum Putbuser Bahnhof gebracht. An beiden Orten versammeln sich große Menschenmengen. Nur mühsam können Polizisten Übergriffe auf den Tatverdächtigen verhindern.
Doppelmord bei Osnabrück drei Jahre zuvor
Tessnow kommt ins Gefängnis nach Greifswald und wird dort immer wieder verhört. Er leugnet die Tat beharrlich und bleibt dabei, dass die roten Flecken Beize seien. Zufällig erfahren die Ermittler jedoch von einem ähnlichen Fall. Drei Jahre zuvor, am 9. September 1898, sind in Lechtingen bei Osnabrück zwei Schulmädchen brutal ermordet worden. Auch ihre Leichen finden sich damals zerstückelt und weiträumig in einem Wald verteilt. Der Tatverdächtige: Ludwig Tessnow. „Er konnte sich aber mit dem Argument, die Flecken auf seiner Kleidung seien Tischlerbeize, einer Verurteilung entziehen“, sagt Jan Armbruster. Er ist Leitender Oberarzt am Hanseklinikum Stralsund und hat zum Kriminalfall Tessnow geforscht.
Problem für Ermittler: Menschenblut oder Tierblut?
Ermittler haben bis Anfang des 20. Jahrhunderts ein wiederkehrendes Problem: „Wenn Tatverdächtigen vorgehalten wurde, dass sich an ihrer Kleidung menschliches Blut befindet, wurde immer behauptet: Nein, das ist Tierblut“, erzählt Britta Bockholdt vom Institut für Rechtsmedizin der Universitätsmedizin Greifswald. Die Schutzbehauptung ist damals nicht zu widerlegen. Mensch- und Tierblut zu unterscheiden, ist schlicht unmöglich gewesen. Das ändert sich erst im Februar 1901 – fünf Monte vor dem Verbrechen auf Rügen.
Ende aller Zweifel durch Uhlenhuth-Verfahren
An der Universität Greifswald forscht damals der Wissenschaftler Paul Uhlenhuth. Er entwickelt den weltweit ersten Test, um menschliches Blut identifizieren zu können. „Für die forensische Medizin ein bahnbrechendes Ergebnis“, sagt Britta Bockholdt. Uhlenhuths Verfahren beruht auf einer Antigen-Antikörper-Reaktion. Zunächst wird Kaninchen menschliches Blut injiziert. Sie bilden daraufhin Antikörper gegen menschliche Eiweiße. Wird das modifizierte Kaninchenblut nun abgenommen, zu einem Serum verarbeitet und mit verdünntem menschlichen Blut gemischt, kommt es zu deutlichen Verklumpungen. Bei Farbe oder anderen Blutarten gibt es diese Reaktion nicht.
Wissenschaftler untersucht Mordfall
Der Rügener Doppelmord ist der erste Mordfall, in dem Uhlenhuths Erfindung angewendet wird. Der Wissenschaftler habe sich 1901 persönlich um die Untersuchung gekümmert, weiß Britta Bockholdt. „Er hat sämtliche Bekleidungsstücke und auch einen Stein, das Tatwerkzeug übergeben bekommen. Und alles ganz systematisch untersucht.“ Uhlenhuths Gutachten ist eindeutig: Die Flecken an Tessnows Sachen sind keine Tischlerbeize, sondern menschliches Blut. Uhlenhuth findet zudem Schafsblut-Flecken. Wenige Tage vor dem Mord an den beiden Jungen hat Tessnow auf einer Weide mehrere Schafe getötet und zerstückelt.
Psychiatrische Gutachten: Schuldfähigkeit nicht gegeben
Im Sommer 1902 findet vor dem Greifswalder Schwurgericht der Prozess gegen Tessnow statt. Dass er die Doppelmorde in Göhren und Lechtingen verübt hat, ist nun zweifelsfrei belegt. Aber trägt er auch die Schuld? Daran gibt es Zweifel. Vier Psychiater, die Tessnow unabhängig voneinander untersucht haben, sprechen ihm die Zurechnungsfähigkeit zur Tatzeit ab. „Weil man davon ausging, dass er über mehrere Stunden mit Leichenteilen kriechend an diesem Tatort unterwegs war“, erklärt Jan Armbruster, der die Gutachten genau kennt. Ein rational agierender Mörder, so die Annahme, hätte Spuren verwischt und sich möglichst schnell vom Tatort entfernt. In den Augen der psychiatrischen Experten ist Tessnow geisteskrank.
Todesurteil wird entgegen des Gesetzes gesprochen
Den Greifswalder Staatsanwalt interessieren die Gutachten nicht. In seinem Schlussplädoyer fordert er von den Geschworenen: „Verurteilen Sie den Angeklagten einstimmig, damit diese Bestie in Menschengestalt aus der menschlichen Gesellschaft verschwindet.“ Tatsächlich wird Tessnow von den Geschworenen für schuldig befunden. Der Richter verurteilt ihn zum Tod – obwohl Gesetze das bei eingeschränkter Zurechnungsfähigkeit nicht erlauben. Die psychiatrische Fachwelt und die beteiligten Gutachter sind empört. „Man fragt sich dann billigerweise: Wozu der so kostspielige Luxus eines solchen Aufgebots von Sachverständigen?“, schreibt damals Adolf Knecht, Direktor der Ueckermünder Heilanstalt. Er hat Tessnow dort über Monate beobachtet und untersucht.
Henker sind schon in Greifswald – Hinrichtung wird verschoben
Im Oktober 1903 soll die Hinrichtung im Greifswalder Gefängnis vollstreckt werden. Der Henker und sein Gehilfe sind bereits aus Magdeburg angereist – doch dann passiert etwas Unkalkuliertes. Als Tessnow am Abend vor seiner Hinrichtung informiert wird, bekommt er einen heftigen Anfall und wird bewusstlos. „Er musste in die Greifswalder Nervenklinik eingeliefert werden“, weiß Jan Armbruster. Die Hinrichtung wird verschoben. „Nach damaligem Recht war an Schwangeren und Geisteskranken ein Todesurteil nicht zu vollstrecken.“ Tessnows Anwalt erreicht eine Wiederaufnahme des Verfahrens.
Erneutes Todesurteil im Berufungsprozess
Im Dezember 1906 beginnt vor dem Greifswalder Schwurgericht der Berufungsprozess. Aus ganz Deutschland reisen Pressevertreter an und berichten ausführlich über die Uhlenhuthsche Methode und den Kampf zwischen Staatsanwalt und psychiatrischen Gutachtern, die Tessnow weiterhin eine Schuldunfähigkeit attestieren. Doch der zweite Prozess endet wie der erste: Todesstrafe für Ludwig Tessnow. Die Berliner Tageszeitung „Der Tag“ kommentiert das Urteil rechtfertigend: „Wer Tessnow-Taten verübt, ist ein Grauen auf der Erde und muss ausgerottet werden. Es macht nichts aus, ob das Hirn der Bestie gesund oder krank ist.“
Neu entstandener Konflikt zwischen Justiz und Wissenschaft
Jan Armbruster, der hauptberuflich in der forensische Psychiatrie arbeitet, sieht in den Urteilen des Greifswalder Gerichts eine Fehlentscheidung. Zudem zeige der Prozess den damals neu aufkommenden Konflikt zwischen Rechtssystem und psychiatrischer Wissenschaft. „Die Juristen waren natürlich nicht froh darüber, dass die Mediziner, die standesgemäß eher kritischer auch der Todesstrafe gegenüberstanden, der Justiz jetzt sozusagen die Fälle ‚entrissen‘.“ Zur Hinrichtung von Tessnow kommt es – anders als in vielen Büchern und Artikeln behauptet – zunächst nicht. Das Todesurteil wird in eine lebenslange Haftstrafe umgewandelt. Das hat Jan Armbruster 2014 als erster durch seine Nachforschungen belegen können.
SS-Schergen ermorden den Mörder
Von 1913 bis 1939 wird Tessnow in einem besonders gesicherten Bereich der Provinzial-Heilanstalt Stralsund weggeschlossen. Die Öffentlichkeit nimmt davon keine Notiz mehr. Auch nicht von seinem Tod. Im Rahmen ihrer Euthanasie-Verbrechen räumen die Nationalsozialisten im November 1939 die Stralsunder Klinik. Patienten und Insassen seien verlegt worden, sagt Jan Armbruster: „Es gab drei Transporte mit je 100 Patienten, die nach Piaśnica im heutigen Polen gebracht und da von einer SS-Einheit erschossen wurden.“ Unter den Ermordeten ist auch der Mörder Ludwig Tessnow.
Uhlenhuths Verfahren wird weltweit verwendet
Das Verfahren von Paul Uhlenhuth etabliert sich rasch. Bereits ein gutes Jahr nach dem ersten Prozess gegen Tessnow wird es am 8. September 1903 als gerichtsfestes Beweisverfahren offiziell in Preußen eingeführt. Wenig später nutzen es auch weltweit viele Kriminalisten. „Heute ist es aber eine völlig andere Methode, die auf der molekular genetischen DNA-Analytik beruht“, sagt Rechtsmedizinerin Britta Bockholdt. Sie zollt Paul Uhlenhuth für dessen wissenschaftliche Leistung hohen Respekt, sieht sein späteres Wirken aber kritisch. Tatsächlich hat Uhlenhuth bei der Entfernung jüdischer Wissenschaftler an der Universität Freiburg eine unrühmliche Rolle gespielt. Er plante zudem Immunisierungsversuche an farbigen Kriegsgefangenen.