Vorwürfe gegen Betreuer: Fotos von Konfirmiertenfreizeit „extrem verstörend“

Vorwürfe gegen Betreuer: Fotos von Konfirmiertenfreizeit „extrem verstörend“

12. September 2023 Aus Von mvp-web
Stand: 12.09.2023 06:59 Uhr

Zwei Mitarbeiter der evangelischen Nordkirche betreuen jahrelang gemeinsam Jugendliche auf Kirchenfreizeiten. Im Sommer 2020 filmt einer von ihnen Jungs nackt im Duschraum. Der andere toleriert dies und lässt zu, dass diese Aufnahmen verbreitet werden. Dem NDR liegt ein Datenträger mit diesen und weiteren Foto- und Filmaufnahmen vor.

von Claudia Arlt

Es ist Sommer 2020. Ein Corona-Sommer. Eigentlich sollte es nach Schweden gehen mit mehr als 20 Jugendlichen. Doch das geht nicht. Also bleibt der Zinnowitzer Gemeindepädagoge Cord B. mit den Teilnehmenden im Alter von 14 bis Anfang 20 in Zinnowitz. Bei dieser Konfirmiertenfreizeit der evangelischen Nordkirche wird er unterstützt von Ronald R. Die beiden über 55-Jährigen betreuen seit Jahren Jugendfreizeiten.

Ronald R. hat zwei Kameras dabei, macht Fotos und Videos. Die Jugendlichen am Strand beim Buddeln im Sand, dabei hält er einer Jugendlichen direkt aufs Hinterteil. Tiefe Einblicke ins Dekolleté, ein junger Mann streckt die Zunge raus, tut so, als ob er am Hintern eines anderen leckt. Ronald R. geht auch in den Duschraum der Jugendlichen, filmt nackte Jungs. Seine Aufnahmen brennt er auf CDs. Die bekommen die Teilnehmenden von ihm und Cord B. beim Nachtreffen ausgehändigt.

Alle Grenzen werden gesprengt

Das Cover dieser CD zeigt eine Fotocollage, angefertigt von Ronald R. Wieder eine junge Frau beim Buddeln am Strand von hinten. Ein junger Mann scheint ihr am Hintern zu lecken, ein anderer ist auch mit ausgestreckter Zunge zu sehen, darauf eine weiße Substanz. „Die Cover im Zusammenhang mit dieser Duschszene sind wirklich extrem verstörend und sprengen alle Rahmen, alle Grenzen“, sagt Julia von Weiler vom Verein Innocence in Danger, einer weltweiten Bewegung gegen sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen. Die Psychologin beschäftigt sich seit 1991 mit dieser Thematik.

Die evangelische Nordkirche kennt diese Inhalte seit dem Herbst 2020 und schaltet ihre Präventionsstelle ein. Es geht dabei lediglich um Ronald R. Der war auch aufgefallen, weil eine Konfirmandin WhatsApp-Nachrichten von Ronald R. nicht in Ordnung fand und sie einer Vertrauensperson ihrer Kirchengemeinde gezeigt hat. Da schreibt Ronald R. etwa: „Du hast so viel Gutes in dir, du kannst so liebevoll sein, aber du zeigst das oft nicht.“ Die Chats liegen dem NDR vor. Julia von Weiler hat sie gelesen und meint: „Es hat so eine gewisse klebrige Qualität. Und ich könnte mir vorstellen, dass das für eine Jugendliche, die dem ausgesetzt ist, durchaus unangenehm ist.“

Präventionsbeauftragter vermutet Ausübung sexualisierter Gewalt

Am 12. November 2020 dokumentiert der Meldebeauftragte der Präventionsstelle der Nordkirche den Fall. Das Papier liegt dem NDR vor. Darin kommt er zu dem Schluss, dass es sich um einen sexuellen Missbrauch/Übergriff handelt. „Ronald B. möchte für seine Leistung von den betroffenen Mädchen gelobt werden beziehungsweise Trost erfahren.“ Der Präventionsbeauftragte vermutet die „Ausübung sexualisierter Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen“.

Nur einen Tag später hat der Präventionsbeauftragte die Falldokumentation umgeschrieben. Am 13. November 2020 kommt er zu dem Schluss, dass es sich um eine „Grenzverletzung“ handelt. „Eindeutige Hinweise beziehungsweise gewichtige Anhaltspunkte auf eine Sexualisierung der Kontakte beziehungsweise einer Kindeswohlgefährdung konnten nach meiner Einschätzung nicht gefunden werden“, schreibt er. Es bestehe „keine akute Gefährdungssituation“.

Der Pressesprecher der Nordkirche, Dieter Schulz, erklärt das so: „Hinweise, die der Nordkirche in dem Kontext bekannt werden, werden umgehend dokumentiert. Oft erfolgt dies verständlicherweise in stark emotional geprägten Gesprächen. Zudem ist es nicht unüblich, bei einer Ersteinschätzung zunächst von einem Worst-Case-Szenario auszugehen. Daher wurde der Fall zunächst als sexueller Missbrauch/sexueller Übergriff eingestuft. Es ist keinesfalls ungewöhnlich, dass eine solche Ersteinschätzung nach Sichtung von Materialien, nach Gesprächen, Befragungen und Beratungen revidiert wird.“

Keine Abmahnung für Ronald R.

Foto- und Filmaufnahmen, WhatsApp-Chats – der zuständige Propst Andreas Haerter empfiehlt im Februar 2021 dem Kirchengemeinderat Ahlbeck eine Abmahnung des Mitarbeiters. Die Vorsitzende Christiane Holmer, die mit Ronald R. befreundet ist, hält dies „nicht für angezeigt“. Sie habe disziplinarische Maßnahmen ergriffen, Ronald R. angehört, belehrt und gerügt. Außerdem nehme er fortan nicht mehr an Jugendfreizeiten teil. Die „Grenzverletzungen“ wären ausschließlich im ehrenamtlichen Bereich erfolgt und hätten „keinerlei strafrechtliche Relevanz“.

Dem widerspricht Gesa Stückmann. Laut der Rostocker Rechtsanwältin und Expertin auf dem Gebiet der Mediennutzung verletzt Ronald R. mit seinen Filmaufnahmen in der Dusche nicht nur das Recht am eigenen Bild. „Im höchstpersönlichen Lebensbereich Aufnahmen zu machen ist strafbar, wenn da eben keine Zustimmung vorliegt. Und ich sehe die Zustimmung hier schon fraglich, weil es eben Betreuer sind, die dort filmen und dass diese Aufnahme dann auch noch auf eine DVD gebrannt worden und dann allen Jugendlichen, die an der Freizeit teilgenommen haben, zur Verfügung gestellt wurden, also das ist in jedem Fall strafbar.“ Ob Christiane Holmer, die selbst Rechtsanwältin ist, bei ihrer Einschätzung bleiben würde? Sie will sich gegenüber dem NDR nicht äußern.

Im Mai 2021 beendet der interne Beraterstab der Nordkirche seine Arbeit. Ronald R. fährt nicht mehr auf Jugendfreizeiten, bleibt allerdings Mitarbeiter der Kirchengemeinde Ahlbeck. Für Cord B. ändert sich nichts. Er ist nach wie vor Gemeindepädagoge in Zinnowitz und mit Kindern und Jugendlichen unterwegs.

Kirche hat neuen Beraterstab ins Leben gerufen

Ein kirchlich Engagierter, der sich gut im kirchlichen Leben auf der Insel auskennt und unerkannt bleiben will, meint, dass auch Cord B. ein „Täter“ sei. „Ich halte beide für Täter, die unmittelbar zusammengehören. Ich glaube, dass der Fotograf für die Interessen desjenigen, der nur die pädagogische Arbeit hätte machen sollen, dass der für den gearbeitet hat.“ Ein harter Vorwurf.

Aber warum hat Cord B. die Aufnahmen und Fotocollagen von Ronald R. und deren Aushändigung an rund 20 Jugendliche nicht untersagt? Anfragen des NDR an Cord B. und Ronald R., sich zu äußern, bleiben unbeantwortet. Auch der zuständige Propst Andreas Haerter und Bischof Tilman Jeremias wollen nicht mit dem NDR sprechen.

Nur so viel von Pressesprecher Schulz: Die Nordkirche will sich aufgrund von Medienberichten noch einmal mit Cord B. und Ronald R. befassen. „Wir als Nordkirche sind für Berichterstattung dankbar, weil wir aufgrund dieser Berichterstattung an Informationen gelangt sind, die dem damaligen Beratungsstab nicht vorlagen. Und aufgrund dieser neuen Informationen hat die Nordkirche unverzüglich gehandelt und einen neuen Beratungsstab einberufen.“

Polizei hat Bürgerhinweis erhalten

Viele fragen sich, ob das, was mit der CD von der Zinnowitzer Konfirmiertenfreizeit öffentlich geworden ist, nur „die Spitze des Eisbergs“ sei? Doch warum haben Jugendliche oder Eltern nicht schon längst aufbegehrt? Julia von Weiler vom Verein Innocence in Danger erklärt das so: „Man kann wirklich fast sagen, je dreister offensichtlicher, öffentlicher solche Sexualisierung überschritten wird, desto eher kommen diese Menschen damit durch, weil es immer noch schwer ist, sich dagegen zu wehren und sich als einzelne Person dagegen zu stemmen. Damit entsteht die schweigende Mehrheit. Und damit entsteht so etwas wie Zustimmung. Und es ist ganz schwer, sich daraus zu lösen.“ Sie empfiehlt bei Teilnehmenden aus vergangenen Jahren nachzufragen, ob es bei Freizeiten mit Cord B. und Ronald R. Grenzüberschreitungen gegeben hat. Zinnowitz gebe genügend Anlass zu hinterfragen, „ob diese Freizeiten alle so wundervoll verlaufen sind, wie man uns weis machen wollte.“

Die Polizei hat aufgrund eines Hinweises eines Bürgers mittlerweile den Datenträger mit den Foto- und Filmaufnahmen aus Zinnowitz auf dem Tisch. Laut einer Polizeisprecherin wird dieser Hinweis nun geprüft.