Studie untersucht Zersetzungsmaßnahmen in der DDR
2. Oktober 2023Das Unrecht der SED-Diktatur ist auch 33 Jahre nach der Wiedervereinigung nicht vollständig aufgeklärt. Ein Forscherteam der Universität Rostock untersucht die gesundheitlichen Langzeitfolgen von sogenannten Zersetzungsmaßnahmen. Eine Kostümbildnerin berichtet.
Mode ist eine Leidenschaft von Anna Haase, eine andere ist die Oper. Im Schweriner Staatstheater sieht sie als Schülerin ihre erste, den „fliegenden Holländer.“ In Berlin studiert sie Bekleidung und Sprachen, durch Zufall bekommt sie Anfang der 80er-Jahre eine Anstellung an der Komischen Oper als leitende Kostümbildnerin.
Doch diese Arbeit wird ihr schnell zu eng: „Ich wollte mehr und in der DDR wurde die Käseglocke immer enger. Wenn man sich mit Mode beschäftigt und man hat Mailand, Paris und London nie gesehen, ist das ein schwerer Stand. Man denkt: Jetzt vergeht dein Leben und du hast nichts davon gehabt“, erzählt Anna Haase.
Von der Kostümbildnerin zur Toilettenfrau
Für mehr als 30 Ankleider ist Anna Haase damals zuständig – solange bis sie 1985 einen Ausreiseantrag stellt. Das SED-Regime will sie nicht gehen lassen. Immer wieder wird sie dazu gedrängt, ihren Antrag zurückzuziehen und sie wird auch bei ihrer Arbeit in der Oper unter Druck gesetzt: „Dann musste ich Strafarbeiten durchführen, musste 2.500 Paar Trikots von Balletttänzern auf Laufmaschen und Löcher untersuchen.“
Als sie damit fertig ist, teilt ihr die Personalabteilung mit, dass es keine andere Arbeit mehr für sie gebe, erzählt Anna Haase: „Ich war dann nur noch Garderoben- und Toilettenfrau.“ Auch ihr Lohn wird drastisch gekürzt, für Anna Haase geht es damit schlicht ums Überleben.
Zersetzung in der DDR – wenn die Stasi Schicksal spielte
Wie Tausende andere wird Anna Haase so durch das DDR-Regime „zersetzt“. Ab Mitte der 70er-Jahre verfolgt das Ministerium für Staatssicherheit die Strategie, politische Gegner und viele Ausreisewillige nicht zu verhaften, sondern psychisch mürbe zu machen.
Die Richtlinie 1/76 beschreibt sogenannte Zersetzungsmaßnahmen. Durch Bespitzeln und Abhören sammelt das MfS oft intime Informationen, um damit systematisch den Ruf einer Person zu schädigen oder – und auch so steht es in der Richtlinie – private und berufliche Misserfolge zu inszenieren. Für die Betroffenen spielt die Staatssicherheit damit Schicksal. Oft erfahren sie erst nach dem Mauerfall durch einen Blick in ihre Stasi-Akten, was ihnen widerfahren ist.
Rostocker Studie sucht noch Teilnehmende
Ein Rostocker Forscherteam untersucht erstmals die gesundheitlichen Folgen solcher Zersetzungsmaßnahmen. Ein Problem: Viele wissen nicht, dass sie Opfer sind, denn Belege finden sich meist nur in den Stasiakten, sagt die Demografin Anne Maltusch von der Uni Rostock. „Es gibt viele, die vielleicht gar nicht ihre Akten beantragt haben. Es gibt viele, die sich mit dem Thema auch nicht mehr auseinandersetzen wollen und es gibt natürlich auch viele, deren Familien gar nicht wissen, was ihnen in der DDR widerfahren ist.“
Betroffene leiden unter Depressionen und Angststörungen
Für die Studie werden derzeit noch Teilnehmende gesucht. Doch viele Betroffene leben heute zurückgezogen und sind nicht so vernetzt, wie andere Opfergruppen der SED-Diktatur – wie etwa Betroffene von Zwangsdoping oder Menschen, die in der DDR zu Unrecht inhaftiert wurden.
Mehr als 40 Betroffene von Zersetzungsmaßnahmen wurden für die Studie bisher befragt. Ihre Erlebnisse haben sich unterschiedlich ausgewirkt: „Viele Betroffene leiden bis heute unter Depressionen und unter Angststörungen, aber auch unter sozialen Phobien. Auch die Angst vor Ämtern und vor Autoritäten spielt häufig eine Rolle“, erklärt Anne Maltusch. Aber sie habe in den Befragungen auch das genaue Gegenteil erlebt. Viele Betroffene erklären, dass die Erlebnisse sie sogar gestärkt und sie innerhalb der Familien noch enger zusammengeschweißt hätten. Viele würden sich auch erneut gegen das Regime stellen.
„Aufarbeitung ist oft eine Floskel“
Bei Anna Haase ist es etwas von beidem. Ihre Erlebnisse in der DDR haben sie bis heute im Alltag zwar misstrauischer, aber auch stärker gemacht, sagt sie. Die gesellschaftliche Aufarbeitung empfinde sie häufig als Floskel. „Ich habe mir viele Gedanken über Aufarbeitung und Verarbeitung gemacht. Ich glaube, dass es nicht geht. Was wir erlebt haben, sitzt wie Mehltau auf unserer Seele. Wir müssen damit leben und werden es mit ins Grab nehmen.“
Mode und Oper sind nach dem Mauerfall immer noch die Leidenschaften von Anna Haase – doch keine beruflichen mehr. Seit Jahren arbeitet sie als Reiseführerin in Berlin. Sie will heute vor allem aufklären und deshalb ihre Geschichte auch in Zukunft immer wieder erzählen.