Nils Kucher im Gespräch – Gefäß-Professor: „Wir haben Corona von Anfang an falsch eingeschätzt“

14. Mai 2020 Aus Von mvp-web

Die Gefahr von Blutgerinnungsstörungen in Folge einer Covid-19-Erkrankung wurde Gefäßmediziner Nils Kucher zufolge bislang unterschätzt. Würde man Thrombosen und Embolien verhindern, könnte man die Sterberate senken. Das will er nun mit einer Studie beweisen.

Rechtsmediziner des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf untersuchten in den vergangenen Wochen rund 190 verstorbene Covid-19-Patienten – auch, als das RKI davon noch abriet. Bei zwölf Patienten führten sie noch nach dem Tod Computertomographien durch – und entdeckten Erstaunliches: Sieben der Patienten hatten Thrombosen, also Gerinnselbildungen, entwickelt, vier davon waren an einer Lungenembolie gestorben. Vor ihrem Tod bestand bei den Betroffenen kein entsprechender Verdacht.

Sars-CoV-2 scheint demnach in den Venen zur Bildung von Blutgerinnseln zu führen, die als Lungenembolie in die großen Lungengefäße gelangen und zu einem akuten Herz-Kreislauf-Versagen führen können.

Die Mediziner des Hamburger Klinikums forderten deshalb, dass die Thrombosypropyhlaxe eine stärkere Rolle in der Behandlung von Covid-19-Patienten spielen müsse.

„Längst überfällig“

„Die Kollegen aus Hamburg konnten bestätigen, was wir bereits Anfang April vermutet hatten“, erklärt Gefäßmediziner Nils Kucher. Er ist Direktor der Klinik für Angiologie im Universitätsspital Zürich und untersucht, was das Coronavirus in den Organen und Gefäßen anrichtet.

Die Erkenntnis der Hamburger Rechtsmediziner ist Kucher zufolge längst überfällig. Die Bestätigung, dass das Virus Thrombosen und infolge dessen lebensgefährliche Embolien auslösen könne, habe viel zu lange gedauert: „Warum es so lange gedauert hat? Ich glaube, dafür gibt es zwei Gründe.“

Zum einen kritisiert der Angiologe das Management in der ambulanten Behandlung von Covid-19-Patienten. „Betroffene kommen zu einem Testzentrum, wo man einen Abstrich macht. Dort befindet sich zwar ein Arzt, der entscheidet ob der Patient hospitalisiert oder wieder nach Hause geschickt wird“, erklärt Kucher. „Falls der Patient nicht hospitalisiert wird, findet oft weder eine Blutentnahme noch ein Test für Thrombose statt“.

Fehlende Überwachung der ambulanten Patienten

In vielen Fällen würden Erkrankte dann wieder nach Hause geschickt, warteten dort auf einen Anruf, auf ihr Testergebnis. „Fällt es positiv aus, müssen sie für mindestens 14 Tage in Quarantäne bleiben. Sich selbst melden, wenn es ihnen schlecht geht“, erklärt Kucher weiter. „Es gibt oft auch keine systematische Überwachung der ambulanten Patienten.“

Der zweite Fehler liege in der Abklärung der Patienten, die stationär aufgenommen werden. Im Rahmen einer Studie betrachtete Kucher 388 Patienten einer Mailänder Klinik – und die Ergebnisse waren „schockierend“.

Nur zehn Prozent der Patienten hatten eine Computertomographie erhalten. „Und noch viel schockierender: Jeder dritte davon hatte eine Lungenembolie“, erklärt der Gefäßmediziner. Hätte man bereits früher viel mehr Patienten obduziert, hätte man früher von der Gefahr einer Embolie erfahren – und hätte Patienten gründlicher untersucht.

Ohne Computertomographien (CTs) sei es schwer, zwischen einer Lungenentzündung und einer Gefäßerkrankung, der Embolie, zu unterscheiden. „Die Symptome sind sehr ähnlich: Atemnot, Fieber und Brustschmerzen“.

Tatsächlich unterscheide sich der Mechanismus jedoch von dem, den man bisher von derartigen Viren kenne. „Dass das Virus an ACE2-Rezeptoren andockt, wussten wir bereits. Diese befinden sich in hoher Konzentration in der Lunge, weshalb der Erreger diese zunächst befällt und in Folge dessen Lungenentzündungen auslösen kann“, erklärt Kucher.

Aber: Die Rezeptoren befinden sich auch in anderen Organen, in Gefäßen und den dort angesiedelten Endothelzellen. Sars-CoV-2 befällt also direkt kleinere und größere Blutgefäße, setzt dort schädliche Proteine, sogenannte Zytokine frei – und es kommt zu Gerinnungsstörungen wie Thrombosen. „Das konnten wir in Zürich unter dem Elektronenmikroskop nachweisen. Und das ist etwas Neues, das kennen wir bisher von keinem anderen Virus“, sagt der Angiologe weiter.

„Wollte wissen, wo die Menschen sterben“

Die Mailänder Studie habe außerdem gezeigt, dass die meisten CTs am ersten Tag der stationären Behandlung durchgeführt wurden. „Das bedeutet, die Patienten brachten die Embolie von zuhause mit.“ Sie kamen also nicht nur wegen eines durch Covid-19 ausgelösten Infekts ins Krankenhaus – sondern auch wegen einer Lungenembolie.

Das brachte Kucher zum Nachdenken. „Ich wollte wissen, wo die Menschen überhaupt sterben“, meint er. Auf Nachfrage musste das Robert-Koch-Institut eingestehen, es nicht zu wissen.

In der Schweiz stellte Kucher ebenfalls Anfragen an Kliniken. Dabei fand er heraus, dass am 20. April 2020 in allen großen Krankenhäusern nur 206 Menschen gestorben waren. Laut den offiziellen Meldezahlen waren an diesem Tag jedoch insgesamt 1500 Personen in Folge einer Covid-19-Infektion gestorben. „Mein Fazit also: Der Großteil der Menschen stirbt zuhause oder im Heim.“

Fopcus Online: Donnerstag, 14.05.2020, 13:57