Ukraine Die „Weißen Engel“ von Awdijiwka
12. November 2023Russische Truppen belagern die Stadt Awdijiwka. Die wenigen dort verbliebenen Bewohner werden von einer Sondereinheit der Polizei versorgt und evakuiert – den „Weißen Engeln“. Ihre Fahrten in die Stadt sind jedesmal lebensgefährlich.
Nur noch eine einzige Straße führt durch ukrainisch kontrolliertes Gebiet nach Awdijiwka. Sie entlangzufahren, ist lebensgefährlich – sie steht permanent unter russischem Beschuss. Und auch in Awdijiwka selbst gibt es keinen Ort mehr, der noch sicher ist.
Die einstige Industriestadt im Osten des Landes ist seit Monaten schwer umkämpft. Für Putins Armee ist die Stadt strategisch wichtig, nicht zuletzt wegen ihrer Nähe zur Industriestadt Donezk. Ukrainische Soldaten in der Region haben den Eindruck, dass die russische Armee seit dem Angriff der Hamas auf Israel ihre Angriffe noch einmal verstärkt hat mit dem Ziel, die Stadt einzukesseln.
Leben in Ruinen
Nur noch wenige Bewohner trotzen der ständigen Bedrohung und sind geblieben. Vor Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine lebten rund 30.000 Menschen in Awdijiwka – jetzt sind es etwa 1.600. Diese Menschen zu versorgen, ihnen immer wieder das Angebot zu machen, sie aus der Stadt zu holen, das haben sich Genadij und Dima zur Aufgabe gemacht. Sie gehören zur ukrainischen Polizeisondereinheit „Weiße Engel“.
„Jede Woche bringen wir Brot und humanitäre Hilfe“, erzählt Genadij, während Helfer Brot in ein gepanzertes Fahrzeug laden. Es soll heute nicht nur an private Haushalte gehen, auch ein kleines Krankenhaus wollen sie beliefern. Einige Ärzte und Krankenschwestern würden dort noch arbeiten, sagt Genadij. Und manchmal bringen die „Weißen Engel“ auch Stofftiere in die Stadt, ein „Anti-Stress-Mittel“ für die Kinder, die sie evakuieren.
Denn vereinzelt leben noch Kinder mit ihren Familien in der völlig zerstörten Stadt. Doch seit April hätten sie kein einziges mehr finden können, sagt Genadij. Aufgrund der vielen russischen Angriffe seien fast alle Hochhäuser eingestürzt, wie viele Opfer unter den Trümmern liegen, wissen auch die beiden Helfer nicht.
Den Transporter zu beladen ist noch die einfachste Aufgabe für Gennadij und Dima – danach wartet eine gefährliche Fahrt auf sie.
Versuch, Verwaltung aufrecht zu erhalten
Vitalii Barabash ist Bürgermeister dieser Stadt, die kaum noch existiert. Sein Büro hat er in einen Ort außerhalb von Awdijiwka verlegt. Jeden Tag fährt er noch rein nach Awdijiwka, macht sich ein Bild von der Lage.
Auch er würde sich wünschen, dass sich seine Bürger in Sicherheit bringen. Er arbeitet eng mit den „White Angels“ zusammen.
Doch Barabash hat auch Verständnis für diejenigen, die bleiben. Viele hätten Angst, woanders nicht willkommen zu sein, manche hätten Sorge, ihre Heimat nie wiederzusehen. Und dann gebe es noch eine besondere Denkart, die „ukrainische Mentalität“, sagt der Bürgermeister, und die müsse man verstehen. Er beschreibt die Haltung so: „Mein Haus ist meine Festung, selbst wenn sie bis auf die Grundmauern zerstört ist.“
Die Menschen würden dann eben in ihren Kellern weiterleben – sie seien bereit, sogar ihr Leben zu riskieren, nur um dort zu sein.
Zermürbt von den Angriffen
Sieben Stunden nach ihrer Abfahrt sind Gennadij und Dima zurück von ihrer Mission. Sie bringen Bilder mit aus einer völlig zerstörten Stadt – und Halyna, Oleksandr und Ihor. Die drei wollten sich in letzter Minute doch noch retten lassen. Ihre Wohnungen sind zerstört, erzählen sie, getroffen von gleich mehreren Raketen. Immer wieder seien sie in verlassene, nicht zerstörte Wohnungen umgezogen. Als auch die letzte von einer Rakete getroffen wurde, entschlossen sie sich, sich doch evakuieren zu lassen.
Bis zuletzt hätten sie gebetet, dass „ihre Jungs“, die ukrainische Armee, Awdijiwka zurückerobert, sagt Halyna: „Ich hatte so gehofft und jetzt ist alles vorbei. Die Wohnung ist weg. Erst der Balkon, dann das Schlafzimmer. Die Ecke des Hauses ist weg. Alles ist abgebrannt.“
Sie haben es aus Awdijiwka heraus geschafft – Halyna uund Ihor sind dank der „Weißen Engel“ in Sicherheit.
Das Versprechen der Polizisten
Für die Drei geht es jetzt erstmal weiter in eine Notunterkunft, danach wollen sie weiter zu Verwandten nach Dnipro. Ihor hofft, dort Arbeit zu finden – und er ist den „Weißen Engeln“ dankbar: „Sie retten Leben“, sagt er, und er wünscht sich, dass es „mehr von solchen Menschen gibt“.
Genadij und Dima wollen ihre Mission fortsetzen, „solange es irgendwie geht“. Weil Awdijiwka immer noch ihre Stadt sei. Und weil sie Polizisten sind: „Wir haben versprochen, für diese Menschen da zu sein.“