“ interview “ Ampel in der Haushaltskrise „Vertrauensverlust war noch nie so groß“
25. November 2023Die Finanzpolitik sei von Anfang an der Lackmustest für die Koalition gewesen, sagt die Politologin Reuschenbach im Interview. Der Vertrauensverlust in der Haushaltskrise sei immens. Die Regierung müsse nun schnell Tatsachen schaffen.
tagesschau.de: Politik verliert seit Jahren an Vertrauen. Wie groß ist durch das Scheitern der bisherigen Haushaltspolitik der Vertrauensverlust in die Bundesregierung?
Julia Reuschenbach: Das Thema Haushalt ist ein sehr komplexes, insofern muss man abwarten, wie sehr sich das tatsächlich in einem weiteren Vertrauensverlust niederschlägt. Aber der bereits vorhandene Vertrauensverlust dieser Ampelkoalition ist in der Tat gravierend, er war noch nie so groß – und das, obwohl zwei schwierige Jahre erst noch vor ihr liegen. Sie muss gerade mit Blick auf den Haushalt Tatsachen schaffen, die dem entgegenwirken.
tagesschau.de: Erst Schattenhaushalt als neuer Schuldentopf, jetzt doch die Notlage erklärt. Das stiftet Verwirrung und Unsicherheit – wie kann die Politik das rückwirkend noch erklären?
Reuschenbach: Das ist möglich, indem man jetzt gemeinsam feststellt zu sagen, dass auch 2023 von einer Krisensituation gekennzeichnet war wie die Vorjahre auch. Das kommt Mitte November reichlich spät. Es wäre sicherlich ratsam, dafür in den Reihen der Opposition um Unterstützung zu werben. Gleichzeitig muss man klar sagen, wie man in den nächsten Jahren haushalten will, was das Bündnis aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts gelernt hat.
Julia Reuschenbach lehrt und forscht seit 2022 beim Fachbereich Politik und Sozialwissenschaften
am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin. Ihre Schwerpunkte sind unter anderem Wahl- und Parteienforschung sowie Politische Kommunikation.
„Vergegenwärtigen, was auf dem Spiel steht“
tagesschau.de: Wenn man sich die beiden Pole der Ampel mit unterschiedlichen Positionen zum erneuten Aussetzen der Schuldenbremse für das neue Jahr anschaut – wie soll man da zu einer gemeinsamen Linie finden?
Reuschenbach: Wir wussten von Anfang an, dass die Finanzpolitik der Lackmustest dieser Koalition sein würde. Genau an diesem Punkt stehen wir jetzt. Meines Erachtens kann man nur dahingehen, dass man schnell eine Lösung für 2024 findet und diese Halbzeit nutzt, um sich zu vergegenwärtigen, was auf dem Spiel steht. Dann sind alle aufgefordert, sich aufeinander zuzubewegen. Nach meinem Eindruck deuten viele Stimmen auch aus CDU-regierten Ländern auf eine Reform der Schuldenbremse hin. Ob es dieser Koalition noch gelingt, würde ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht beurteilen wollen.
tagesschau.de: Das Verfassungsgericht gab aber Politik auch auf, beim Klimaschutz schneller und konsequenter werden zu müssen – wie kann die Politik diesen Spagat schaffen?
Reuschenbach: Alle drei Parteien haben im Koalitionsvertrag gesagt, dass sie das Klimaschutz-Urteil ernst nehmen wollen. Aber bei der Umsetzung treffen einfach fundamental unterschiedliche Steuerungsvorstellungen aufeinander. Da geht es um die entscheidende Frage, wie der Staat sich hier engagieren soll. Und wieviel Kosten will er künftigen Generationen aufbürden? Das kann nur durch eine ehrliche und offene politische Kommunikation gelingen, die den Menschen etwas zumutet. Aber transparent zu machen, dass nur ein Kompromiss aller drei Parteien die Lösung sein kann.
tagesschau.de: Schafft der Kanzler, da seine Vermittlungsrolle im Moment auszufüllen?
Reuschenbach: Olaf Scholz hat zweierlei an den Anfang seiner Kanzlerschaft gestellt: Erstens, dass Führung bekommt, wer diese bestellt. Zweitens, dass in einem neuartigen Dreier-Bündnis alle drei Parteien glänzen können müssen. Diesen Spagat durchläuft der Kanzler fortwährend. In den Debatten nach dem Urteil war er bisher zu wenig präsent und wenig sichtbar. Aber hier ist die ganze Regierung in der Verantwortung, wenn es darum geht, ob in Szenarien gedacht werden kann, je nachdem wie Karlsruhe urteilt.
Reform der Schuldenbremse mit der FDP?
tagesschau.de: Die Rolle der CDU könnte auch destruktiv wirken: Tut sich Union damit einen Gefallen?
Reuschenbach: Die Union hat durch ihre Klage in Karlsruhe diese Situation maßgeblich mit entstehen lassen, das ist ihr gutes Recht als Oppositionspartei. Wir sehen aber auch, dass CDU-Ministerpräsidenten davon betroffen sind, weil sie auch solche Sondervermögen mit eingerichtet haben. Es gibt auch dort unterschiedliche Meinungen – und es ist eine Partei, die noch im Findungsprozess ist, was ihr neues Grundsatzprogramm angeht. Diese gesamte Gemengelage führt dazu, dass die CDU nicht in der Lage ist, von der Lage in erheblichem Maß zu profitieren. Das verhindert aber auch, dass sie sich gerade eher konstruktiv einbringt.
tagesschau.de: Mit dem erneuten Aussetzen der Schuldenbremse muss die FDP ein zentrales Versprechen aufgeben. Welche Folgen hat das für die Partei?
Reuschenbach: Die FDP hat in der Koalition mit der Union 2009 bis 2013 erlebt, dass das Nicht-Erfüllen von Wahlversprechen von großer Bedeutung für ihre Anhänger ist. Damals ist man aus der Regierung und aus dem Parlament gewählt worden. Das war verheerend. Insofern war es erwartbar, dass die FDP alles versuchen würde, um dem anders zu begegnen.
tagesschau.de: Gleichzeitig sieht man bei den Grünen, dass man auch für schmerzhafte Kompromisse in den eigenen Reihen werben kann, weil besondere Zeiten besonderes politisches Handeln erfordern.
Reuschenbach: Deswegen läge für die FDP sehr wohl eine Möglichkeit, in den eigenen Reihen, mehr Unterstützung und Überzeugung für dieses Bündnis zu gewinnen. Denn der andere Kurs einer parteipolitischen Profilschärfung hat zumindest bislang die Situation der Partei im Gegensatz nicht verbessert.
tagesschau.de: Wie weit kann Lindner gehen, ohne weitere FDP-Wähler zu vergraulen?
Reuschenbach: Das ist eine herausfordernde Lage. Man hat sich eingelassen auf dieses Bündnis mit zwei Parteien, die andere Vorstellungen etwa bei der Neuverschuldung mitbringen. Um vor die Lage zu kommen, könnte sich Lindner die Reform der Schuldenbremse als Kernprojekt zu eigen machen. Es ist jedoch unklar, ob er dafür den nötigen Rückenwind aus der FDP haben wird.
„Gemeinsame finanzpolitische Linie finden“
tagesschau.de: Opposition sollte Korrektiv sein – lassen Sie uns auf die AfD schauen, die die Notlage der Ampel ausnutzt. Was macht das mit dem Vertrauen der Menschen in Politik?
Reuschenbach: Wir sehen insgesamt, dass Polarisierung für das politische System schwierig ist. Die vielen Krisen das gegeneinander Ausspielen unterschiedlicher Gruppen, das im Rechtspopulismus häufig betrieben wird, verunsichert. Wir sehen aber auch andererseits eine gewachsene Stammwählerschaft, die die AfD unterstützt. Es wird darauf ankommen, ob man in der politischen Mitte unter allen Parteien gesprächs- und debattenfähig bleibt – gerade mit Blick auf das Wahljahr 2024.
tagesschau.de: Steckt in der Krise auch eine Chance, dass die Ampel-Parteien näher zusammenrücken?
Kann sich die Ampelkoalition davon wieder erholen? Oder muss sie Versprechen aufgeben?
Reuschenbach: Die Ampel muss sich vergegenwärtigen, wo sie ihre Akzente setzen will. Ich bezweifle, dass die SPD und die Grünen große sozialpolitische Einsparungen mittragen würden. Es wird darum gehen, eine gemeinsame finanzpolitische Linie für die nächsten zwei Jahre zu finden. Solche, die nicht unbedingt so sehr auf Einsparungen, sondern auf die Frage des Mehrwerts von Zukunftsinvestitionen schauen.
Das Gespräch führten Corinna Emundts und Nicole Kohnert, ARD-Hauptstadtstudio. Mehr zu diesem Thema sehen Sie am Sonntag um 18 Uhr im Bericht aus Berlin.