analyse Noch Chancen aufs EM-Halbfinale Das muss Deutschland gegen Ungarn besser machen
22. Januar 2024Das Halbfinale bei der EM ist für Deutschlands Handballer nach dem Remis gegen Österreich noch erreichbar. Dafür müssen aber gegen Ungarn nicht nur Punkte, sondern zunächst mal auch eine viel bessere Leistung her.
Während Österreichs Handballer jubelten, obwohl sie in der zweiten Halbzeit einen Fünf-Tore-Vorsprung verspielt hatten, starrten auf der anderen Seite des Spielfelds der Köln-Arena die meisten deutschen Spieler ratlos ins Leere. Fassungslosigkeit über die gerade gezeigte Leistung und einen „verlorenen Punkt“, wie der Tenor nach dem 22:22 (11:12) gegen das Überraschungsteam Österreich zunächst auch an den Mikrofonen war.
Irgendwie auch ein gewonnener Punkt für Deutschland?
Doch in fast allen Interviews nach dem Spiel wechselten sowohl Bundestrainer Alfred Gislason als auch die deutschen Spieler schnell in eine andere Richtung. Der Punkt „könne noch wichtig werden“, hieß es da mehrfach. „Wir haben alle Chancen aufs Halbfinale“, blickte Rechtsaußen Timo Kastening, der wie fast all seine Teamkollegen einen rabenschwarzen Tag erwischt hatte, fast trotzig nach vorn. Und rein theoretisch hat er damit Recht.
Auch wenn die Deutschen es nicht mehr komplett in der eigenen Hand haben: Gewinnen sie ihre letzten beiden Hauptrundenspiele am Montag gegen Ungarn sowie am Mittwoch gegen Kroatien, brauchen sie einen Ausrutscher der Österreicher gegen Top-Favorit Frankreich oder das bereits ausgeschiedene Island.
Vor allem am Montag dürfte der DHB also genau hinschauen, was vor dem eigenen Spiel in der Kölner Halle passiert. Frankreich kann ab 18 Uhr gegen Österreich den Einzug ins Halbfinale perfekt machen. Es ist durchaus realistisch, dass die im Turnier noch ungeschlagenen Österreicher ihre erste Niederlage kassieren – schon gegen Deutschland gingen Mykola Bilyk, Robert Weber und Co. am Ende auf dem Zahnfleisch, warfen in den letzten zwölf Minuten des Spiels nur noch ein Tor.
Ansprachen und Analysen müssen es richten
Dazu gibt es noch einige weitere rechnerische Konstrukte, wie das DHB-Team zum Beispiel sogar mit einem Remis und einem Sieg noch weiterkommen kann. Beeinflussen kann man die anderen Partien sowieso nicht – das größere Problem liegt zumindest nach der gezeigten Leistung gegen Österreich darin, sich vorzustellen, dass sowohl die Ungarn als auch die Kroaten geschlagen werden.
„Wir können das ansprechen, was wir heute falsch gemacht haben, aber trainieren können wir es nicht“, sagte Gislason am Sportschau-Mikrofon. Klar, in diesem engen Rhythmus mit einem Spiel alle zwei Tage sind längst keine echten Trainingsreize mehr möglich, zu groß ist die Belastung, zu viele Blessuren haben einzelne Spieler schon. Regeneration, Besprechungen, Video-Studium – das müssen jetzt die Mittel sein, mit denen die Deutschen eine der schlechtesten Angriffsleistungen der vergangenen Jahre abhaken und vor allem verbessern müssen.
Fehlerquote übel, fehlende spielerische Antworten
23 Fehlwürfe, elf technische Fehler – das sind Zahlen, auf die kommt man manchmal nicht einmal nach zwei Spielen. Österreichs Torwart Constantin Möstl war zwar auch überragend, aber einige Fehlwürfe bei Drehern oder Hebern waren einfach kläglich – anders ist das kaum auszudrücken.
Deutschland gegen Österreich – die Zusammenfassung
Solche Aspekte lassen sich womöglich durch das „Ansprechen“ ausmerzen – es ist nicht so, als hätten gestandene Nationalspieler wie Kastening, Golla und Co. plötzlich das Werfen verlernt und müssten es neu üben. Gerade auf diesem Niveau sind solche Wurfquoten oft „Kopfsache“.
Rein analytisch deutlich problematischer war die offensichtliche Ratlosigkeit gegen eine couragierte gegnerische Abwehr, die dem deutschen Spiel immer wieder die Dynamik nahm, indem sie weit heraustrat und die Rückraumspieler „festmachte“, wie man es im Handball nennt. Die Deutschen mussten ohne Tempo wieder neu aufbauen, liefen sich fest und spielten dann unter Druck Fehlpässe oder nahmen sich unvorbereitete Würfe.
Knorrs und Kösters Einzelaktionen waren wichtig
Durch die „Störungen“ von Österreichs aggressiver Deckung passten dann auch die einstudierten Laufwege und Winkel nicht mehr, mit denen das DHB-Team auf die Abwehr zuging – und dann kamen noch die vielen vergebenen Chancen hinzu.
Der Bundestrainer probierte es in nahezu jeder möglichen Rückraum-Konstellation – keine brachte so richtig Erfolg. Am besten lief es noch mit der „bewährten“ Formation um Julian Köster, Juri Knorr und Kai Häfner – auch wenn die alle ebenfalls nicht ihren besten Tag hatten, aber gerade Knorr und Köster konnten zumindest die eine oder andere Einzelaktion setzen.
Ungarn spielt taktisch anders – Chance für deutsches Angriffsspiel?
Die handballtechnisch gute Nachricht für die Deutschen vor der Partie gegen die Ungarn, die mit vier Punkten voll im Rennen ums Halbfinale sind: Die Abwehr der Ungarn spielt ganz anders als die der Österreicher. Eine physisch starke, eher etwas passiv agierende Formation ist meistens das Mittel der Wahl. „Sehr groß gewachsene Innenblockspieler, ähnlich wie Frankreich sie hat, sehr starke Kreisläufer und einen guten Torwart“ hätten die Ungarn, sagt Sportschau-Experte Dominik Klein.
Das macht es für die deutschen Rückraumspieler zwar noch schwerer, aus der Distanz „einfache Tore“ zu erzielen, aber das gelingt dem DHB-Team schon während des ganzen Turniers ohnehin kaum. Dafür dürften das Tempospiel und die einstudierten Laufwege und Kreuzungen wieder etwas „ungestörter“ ablaufen. Wichtig für schnelle Spieler wie beispielsweise Knorr und Köster. Die Abwehr der Ungarn ist der der Franzosen nicht unähnlich – und da gelangen den Deutschen immerhin 30 Treffer.
Ungarns Physis wird ein harter Brocken
Das soll aber nicht heißen, dass es gegen Ungarn automatisch besser laufen wird für das DHB-Team. Die Probleme, die Ungarns Mannschaft ihren Gegnern bereitet, sind eher andere. Körperlich gehört das Team um den 2,07-Meter-Kreisläufer Bence Banhidi zu den stärksten Mannschaften des Turniers.
Laut Kaderliste sind zehn der 20 Akteure im Aufgebot größer als 1,95 Meter, bei den Deutschen sind es lediglich fünf Spieler, die dieses Maß überschreiten. Gerade das Kreisläuferspiel und die großen Rückraumschützen dürften für die Deutschen auch in der eigenen Deckung eine enorme Herausforderung werden – zumal ARD-Experte Klein um die physische Verfassung bei Knorr und Co. fürchtet. „Wie ist der Akku, wie sind die Spieler drauf? Wie viele Körner sind noch da – das macht mir am meisten Sorgen.“
Das Trainergespann wird die Ungarn noch sehr viel ausführlicher analysiert haben – aber all diese Ideen und Erkenntnisse über den Gegner sind nur bedingt etwas wert, wenn die deutsche Mannschaft sich nicht schnell aus dem „Tief“ des Österreich-Spiels zieht. Das Bewusstsein, in der Schlussphase fünf Tore aufgeholt zu haben, ein erneut starker Andreas Wolff und die weiter bestehende Chance auf das Halbfinale sind zumindest einige Faktoren, an denen sich die Mannschaft hochziehen kann.