Deutschland braucht jetzt eine harte Corona-Debatte, aber keine Verschwörungs-Spinner

15. Mai 2020 Aus Von mvp-web
Margarete van Ackerens Berliner Woche

Vielen Selbständigen droht der Ruin. Der Tourismus steht auf der Kippe.

Deutschland türmt einen riesigen Schuldenberg auf. Manche chronisch Kranken kommen zu kurz. Die Pandemie also stellt das Land vor gigantische Probleme. Faire Lösungen müssen her, schonungslos ehrliche Debatten sind wichtiger denn je. Die Analyse offenkundiger Spinnereien allerdings ist Zeitvergeudung pur: Trennen, bitte.

Der Schlag kommt plötzlich. Und er sitzt. Das Gespräch mit dem Berliner Taxifahrer – das Klischee lebt – verläuft zunächst, wie man sich solche Begegnungen vorstellt: spritzig, witzig, unterhaltsam. Dann aber legt der Mann los. „Det kann ja kein Zufall sein, det die ausjerechnet jetzt die Fahrradspur hier machen.“ Seine Kundin ahnt nicht, was kommt, und steigt freudig ein: „Ja, super, erwartet man gar nicht in Berlin, dass die auf Zack sind.“

Nur ist „super“ in dem Fall offenkundig das falsche Stichwort. Denn der Taxifahrer freut sich nicht etwa, dass die Stadt in einer Zeit, in der es kaum Verkehr gibt, neue Spuren für Radler einrichtet, sondern es macht ihn stinkwütend. „Det kann kein Zufall sein“, hebt er noch einmal an und wettert los. Dass Politiker in Zeiten von Corona umsetzen, was sie sonst nie ohne Protest durchgekriegt hätten. Dass das alles mit diesem Virus ohnehin „System“ habe. Dass die Bevölkerung gezielt infiziert werde, um sie gefügig zu machen. Es folgen ein paar Stichwörter aus dem Lexikon für Verschwörungstheoretiker, Bill Gates, Angela Merkel, das volle Programm.

Der Verschwörungsgtheoretiker von nebenanSo also sehen Verschwörungstheoretiker aus: Geschätzt Mitte 40, Ehering, gepflegter Bart, Jeans, T-Shirt, unscheinbarer Zeitgenosse. Man hätte gern mit ihm geredet. Nur ist von dem Moment an, wo er seine kruden Theorien verbreitet, mit dem Mann weder zu reden noch zu spaßen. Er hält einen minutenlangen Wut-Monolog. Hätte die Kundin gar erwähnt, dass sie Journalistin ist, ihr wäre vermutlich entgegengeschleudert worden, dass sie doch bekanntlich morgens von Angela Merkel ihre Befehle empfange, was sie zu schreiben habe. (Sie sieht die Regierungschefin zwar ab und an, wartet aber bislang vergeblich auf tägliche Anrufe aus dem Kanzleramt).

Nur: Wie ist solchen Menschen beizukommen? Mit der praktischen Frage, wie denn der Kontakt zwischen Verkehrsplanern der Hauptstadt mit Merkel laufen soll und weshalb ihr ausgerechnet Entscheider im Rot-Rot-Grün regierten Berlin brav folgen sollten? Mit dem schüchternen Hinweis, dass bisher weder die Kanzlerin noch ihre Regierungsmannschaft durch Akte gezielter Körperverletzung aufgefallen sind? Mit der Nachfrage, wie man sich denn eine globale Zusammenrottung der Mächtigen wie Merkel, Xi und Trump vorzustellen habe, so ganz konkret? Mit dem Argument, dass Microsoft-Gründer Bill Gates seit Jahren für die Ärmsten der Welt kämpft und dass es doch für ihn spricht, dass er die Virus-Gefahr hat kommen sehen?

Argumentieren zwecklos. So freut sich die Frau am Ende fast, dass der Fahrer vor allem Reden und nicht Zuhören möchte. Wäre sonst wohl Energie-Vergeudung gewesen.

Fakten sind Fakten, Quatsch ist Quatsch

Denn wo Verschwörungs-Gespinste den vollen Raum einehmen, hat Vernunft keinen Platz. Man kann endlos erörtern, ob ein rotes Viereck schön oder grundhässlich ist, man kann sich aber Debatten schenken, ob ein rotes Viereck in Wahrheit ein lila getupftes Fünfeck ist. Kurz: Fakten sind Fakten. Quatsch ist Quatsch. Ob es um Vielecke oder um Corona geht.

Wer also die volle Konzentration auf die vielen dramatischen Probleme der Corona-Krise will, sollte genau hinschauen, in wessen Gesellschaft er marschiert.

Die echten Probleme in den Blick nehmen

Es braucht nämlich jetzt die ganze Aufmerksamkeit für alle, die über ernste, manchmal sogar todernste Probleme reden wollen. Die nämlich gilt es, offen anzusprechen und anzugehen. Da gibt es wahrlich genug zu tun. Eine Auswahl:

  • Nach belastbaren Erhebungen stehen möglicherweise über zwei Millionen Selbständige vor dem Ruin. Reine Almosen sind für sie keine Perspektive.
  • Die gesamte Tourismusbranche mit ihren tausenden Beschäftigten schaut gerade in den Abgrund. Wo staatliche Vorgaben Lücken gerissen haben, kann sich der Staat nicht aus der Verantwortung stehlen. Da müssen wohl weitere Hilfen kommen.
  • Deutschland häuft gerade einen gigantischen Schuldenberg auf. Es braucht schnell weitere starke Wachstumsimpulse, damit bald wieder mehr Menschen sich selbst helfen können.
  • Krankenhäuser und Ärzte müssen schleunigst wieder in den Normal-Modus kommen. Noch fallen immer wieder Magenspiegelungen oder Herz-Ultraschall-Untersuchungen aus, weil die Losung „Corona hat Vorrang“ ausgegeben wird. Rheuma-Patienten und andere chronisch Kranke fühlten sich zuletzt schlecht versorgt. Viele Kliniken haben nicht die leiseste Ahnung, wie sie künftig finanziell über die Runden kommen sollen.
  • Auch der Kampf gegen das Virus selbst ist längst noch nicht gewonnen. Die Tracing-App, die Anfang Juni endlich fertig sein soll, ist überfällig, um Infektionsketten zu verfolgen und Neuansteckungen einzudämmen.

Das Märchen vom Schweige-GebotUnd so ist von allen Legenden, die gerade in Deutschland verbreitet werden, die Klage, über die vielen Probleme, Pannen, Versäumnisse und Ängste dürfe nicht offen gesprochen, eine der dämlichsten. Überall wird über die dramatischen Folgen der Krise und über Fehler der Bundes- und der Landesregierungen diskutiert. 24 Stunden am Tag. Im Fernsehen, im Internet, im Radio, in Zeitungen. Und – erst in dieser Woche wieder – Stunden um Stunden im Deutschen Bundestag.

Dabei sind es nicht nur fehlgeleitete Esoteriker, sondern vor allem strategische politische Köpfe, die versuchen, im Windschatten der Wirrköpfe ihr Märchen vom Diskussions-Verbot erneut zu erzählen, um daraus Profit zu schlagen: „Es war einmal in der Flüchtlingskrise …“

Ach ja, und auch das darf in Deutschland laut sagen, wer immer diese Meinung vertritt: „Merkel muss weg“. Man kann es flüstern, rufen, brüllen oder schreiben. Für diese wie für alle Forderungen gilt allerdings auch in Corona-Zeiten die alte Binsenweisheit: Der Fakten-Anteil entscheidet über die Überzeugungskraft.

Focus Online: Freitag, 15.05.2020, 18:40