Stadt hebt bereits Massengräber ausVon wegen Herdenimmunität: Brasilianische Metropole meldet massenweise Corona-Reinfektionen

3. Februar 2021 Aus Von mvp-web
17:39:19
Schon vor Monaten war in Manaus die Rede von Herdenimmunität. Einer Studie nach waren bereits 76 Prozent der Bevölkerung mit Corona infiziert. Dennoch wird der Ort derzeit von einer starken zweiten Welle heimgesucht. Virologe Friedemann Weber erklärt, wie es so weit kommen konnte.

Am 13. März 2020 verzeichnete die brasilianische Stadt Manaus ihren ersten Corona-Fall. Was dann folgte, ist ein Paradebeispiel dafür, was passiert, wenn sich ein Virus ohne Schutzmaßnahmen ausbreitet.

Sars-CoV-2 infizierte binnen weniger Wochen rund drei Viertel der Bevölkerung. Die Stadt musste Massengräber ausheben, um ihre Toten zu beerdigen. Denn in der Zwei-Millionen-Stadt starben an manchen Tagen 100 Menschen in Folge einer Infektion. Zum Höhepunkt der Pandemie waren fast die Hälfte aller Bewohner infiziert.

Erst im Mai nahm das Infektionsgeschehen langsam ab. Laut einer im Januar erschienenen Studie im Fachblatt „Science“ hatten sich bis zum Oktober 76 Prozent aller Bewohner infiziert. Das konnten Forscher anhand von Blutproben nachweisen.

Eigentlich hätte eine weitere Verbreitung des Virus damit gestoppt sein müssen, denn eine Herdenimmunität tritt laut Wissenschaftlern in der Regel schon ab etwa 67 Prozent ein. So galt Manaus bis vor kurzem als die Stadt auf der Welt, die dies bereits erreicht hat.

Zweite Welle in Manaus: Virus schlägt im Dezember zurück

Doch so einfach wie es scheint, ist es nicht. Denn seit Dezember breitet sich das Virus erneut mit voller Kraft aus. Im Januar melden die Behörden wieder täglich tausende Neuinfektionen, teilweise mehr als 3000 pro Tag. Das Gesundheitssystem ist erneut komplett zusammengebrochen. Die Krankenhäuser können die Patienten nicht mehr richtig versorgen.

Berichten zufolge fehlt es besonders an Sauerstoff, so dass Covid-19-Patienten ersticken müssen. Das Video einer Krankenschwester, die fleht: „Sauerstoff. Schickt uns Sauerstoff!“, geht durch die sozialen Netzwerke. Mittlerweile müssen Covid-19-Patienten sogar in andere Bundesstaaten ausgeflogen werden und das Land ist auf Sauerstoffspenden der Weltgesundheitsorganisation angewiesen.

Doch woran liegt es, dass Manaus trotz vermeintlicher Herdenimmunität ein zweites Mal so stark vom Coronavirus getroffen wurde? Wie kommt es, dass die Stadt wieder reihenweise Infektionen meldet – bei so vielen Menschen, die bereits eine Infektion durchgemacht haben?

„Man hat sich in Sicherheit gewogen, schätzt Virologe Friedemann Weber von der Uni Gießen die Lage in Manaus ein, leider ein bisschen zu sehr“. Für die zweite Infektionswelle macht er zwei mögliche Faktoren verantwortlich.

1. In Manaus gibt es keine Herdenimmunität (mehr)

Laut Weber ist es möglich, dass es in Manaus zu keinem Zeitpunkt eine tatsächliche Herdenimmunität gab. Zwar hätten Studien bei mehr als 70 Prozent der Einwohner Antikörper nachgewiesen. Das ist aber nicht mit deren Immunität gleichzusetzen. „Wir können es nicht eindeutig sagen“, erklärt Weber.

„Höchstwahrscheinlich liegt es aber daran, dass die Infektionen bei vielen so schwach waren, dass sie auch keine starke Immunität aufgebaut haben.“ Wenn jemand nur leichte Erkältungssymptome habe, dann habe er zwar Antikörper. „Aber die Immunität ist nicht stark genug, um vor einer Reinfektion zu schützen“. Als Faustregel gelte: Je heftiger die Symptome, umso heftiger ist auch die Immunantwort. Die Folge: Wer keine oder nur leichte Symptome hatte, kann sich erneut infizieren oder das Virus weitergeben.

Das bestätigen auch die Untersuchungsergebnisse der Blutproben. Während zum Höhepunkt der Pandemie im Mai 52,5 Prozent der in Manaus untersuchten Proben positiv auf Antikörper getestet wurden, fiel dieser Wert bis Oktober kontinuierlich auf 25,8 Prozent.

Anhand dieser Daten schätzten die Studienautoren dann die Infketionsrate von 76 Prozent. Sie verweisen allerdings darauf, dass in Manaus womöglich selbst die 76 Prozent Infizierter mit Antikörpern nicht ausgereicht hätten, um Herdenimmunität zu schaffen. „Beengte Wohnverhältnisse, limitierter Zugang zu Trinkwasser und die Nutzung meist überfüllter Flussboote als Haupttransportmittel“ sehen die Forscher als Ursachen für eine sehr leichte Virusverbreitung.

2. Antikörper wirken nicht gegen Escape-Mutationen

Als zweiten möglichen Verantwortlichen für die Reinfektionen nennt Weber die Antikörper. Deren Wirkung wird durch Mutationen eingeschränkt.

So wurde etwa in Manaus erstmals die Corona-Mutation P1 festgestellt. P1 unterscheidet sich in 17 Aminosäuren von dem Ursprungs-Sars-CoV-2-Virus. Es wurde von britischen und brasilianischen Wissenschaftlern bei Genom-Analysen in Brasilien entdeckt, seit Anfang Januar tritt es auch in Japan verstärkt auf.

Im Erbgut des P1-Virus sind auch sogenannte „Immun-Escape-Mutationen“. „Bei diesen wirken die Antikörper aus der ersten Welle nicht mehr so gut“, erklärt Weber. Diese Mutation befindet sich an einer Stelle im Spike-Protein des Virus. Dadurch scheint es bestimmte Antikörper nicht mehr binden zu können. Das Virus lässt sich also nicht mehr so leicht neutralisieren, es entkommt also zumindest teilweise der Immunantwort des Körpers.

„Und das, kombiniert mit der ohnehin nur schwachen Immunität bei vielen Menschen führt dazu, dass die Pandemie dort ein zweites Mal durchrasen konnte“, erklärt Weber. Sind die Mutanten zudem ansteckender als das Ursprungsvirus – bei der in Europa besonders weit verbreiteten Variante B.1.1.7 gehen Forscher von etwa 50 Prozent mehr Ansteckungen aus – verändert das den R-Wert im Land. Dieser ist jedoch maßgeblich für den für eine Herdenimmunität notwendigen Anteil immuner Personen.

Kurz: Je ansteckender ein Virus, desto höher der R-Wert. Je höher der R-Wert, desto höher die Infektionsrate, um Herdenimmunität zu erwirken.

Durchseuchung wie in Manaus ist keine Option

Das Beispiel Manaus zeigt also, wie erfolglos eine solche Durchseuchung ist. Umso wichtiger sind Impfstoffe, die zumindest nach bisherigem Stand auch bei den meisten Mutationen wirken.

So gaben etwa Biontech/Pfizer und Moderna bekannt, dass ihre Impfstoffe auch gegen die Briten-Mutation B1.1.7 wirken. Moderna erklärte allerdings, noch einmal genau prüfen zu wollen, ob die Wirkung auch bei der südafrikanischen Variante B.1.351 ausreiche. Der Impfstoff rufe hier zwar immer noch eine schützende Wirkung hervor, jedoch bei rund sechs mal weniger Antikörpern. Das Unternehmen gab demnach bekannt, vorsorglich ein „klinisches Entwicklungsprogramm zur Steigerung der Immunität gegen neu entstehende Varianten” zu starten.

„70 Prozent Immunität nur durch Infektionen – das kann man vergessen“, resümiert Weber. „Das war nie eine Option. Denn eine Immunität durch eine Infektion schafft viel Leid – und sie klappt häufig gar nicht. Das kriegen wir nur durch eine fast lückenlose Impfung hin.“

Dramatische Corona-Lage: 9,3 Millionen Infizierte in Brasilien

In Brasilien wurde erst am 18. Januar mit den Impfungen begonnen. Weltweit ist es eines der am stärksten von der Corona-Pandemie betroffenen Länder. Bislang haben sich im größten Land Lateinamerikas rund 9,3 Millionen Menschen nachweislich mit dem Coronavirus infiziert – nur in den USA und in Indien sind die absoluten Zahlen noch höher.

Zudem sind mehr als 225.000 Patienten in Brasilien im Zusammenhang mit Covid-19 gestorben – das ist weltweit Platz zwei. Manaus registrierte Mitte Januar die meisten Klinikaufenthalte im Zusammenhang mit Covid-19 seit April 2020.

In Brasilien starben bislang mehr als 225.000 Menschen in Folge einer Covid-19-Erkrankung.

Our World in Data. In Brasilien starben bislang mehr als 225.000 Menschen in Folge einer Covid-19-Erkrankung.Wegen der dramatischen Corona-Lage haben in mehreren brasilianischen Städten erneut Demonstrationen gegen Präsident Jair Bolsonaro stattgefunden. Im Zentrum der Hauptstadt Brasília versammelten sich am Sonntag etwa 200 Demonstranten. Auf Schildern forderten Protestierende ein Amtsenthebungsverfahren gegen Bolsonaro. Langsam vorbeifahrende Autofahrer hupten als Zeichen der Zustimmung.

Einige vor dem Parlamentsgebäude stehende Demonstranten trugen gelbe Plastiktüten über dem Kopf – damit verwiesen sie auf die dramatische Lage in der Amazonasregion, in der auch Manaus liegt. Die Plastiktüten sollten an die Orte erinnern, wo Corona-Patienten verstorben waren, weil Krankenhäusern der Sauerstoff ausging.