Genesen, aber nicht gesundKlinikchef über Phänomen Long Covid: „Corona zerstört den Körper wie ein Waldbrand“
3. Februar 202118:24:35
Viele Covid-Patienten sind auch Monate nach ihrer Infektion noch nicht gesund. Hilfe finden sie in Post-Covid-Ambulanzen. Andreas Stallmach leitet eine davon. Bei FOCUS Online erklärt er, wie unterschiedlich die Beschwerden der Ex-Corona-Infizierten sind und ob sie mit Besserung rechnen können.
Genesen heißt oft nicht gesund – diese traurige Erkenntnis setzt sich im Nachgang einer durchgemachten Corona-Infektion mehr und mehr durch. FOCUS Online hat darüber mit Andreas Stallmach gesprochen. Er ist Direktor der Klinik für Innere Medizin IV am Universitätsklinikum Jena und Leiter der dortigen Post-Covid-Ambulanz.
FOCUS Online: Patienten, die unter Corona-Folgeschäden leiden, klingen oft verzweifelt, weil sie auch Monate nach überstandener Infektion nicht richtig auf die Füße kommen. Wie schnell kann jemand, der sich bei Ihnen in der Ambulanz meldet, Hilfe erwarten?
Andreas Stallmach: Es kann leider durchaus sechs bis acht Wochen dauern, bis wir einen Termin anbieten können. Das Erfreuliche ist: Manche Patienten rufen dann kurz vorher noch mal an und sagen, inzwischen geht es mir deutlich besser, ich glaube, ich brauche den Termin nicht mehr.
Aber auch andersrum beobachten wir Entwicklungen. Patienten, denen es wieder gut ging und bei denen es dann unerwartet zu einer dramatischen Verschlechterung kommt. Hier reagieren wir mit Notfall-Terminen. Insgesamt können wir die vielen Anfragen seit Monaten nur schwer bewältigen. Ich bin froh, dass sich bundesweit immer mehr Häuser – nicht nur Unikliniken übrigens, auch Rehabilitationseinrichtungen und Schwerpunktpraxen – dem Thema Post-Covid widmen.
Sie haben Ihre Ambulanz vergleichsweise früh eröffnet, im letzten August. Da haben Sie bestimmt bereits eine Menge Erfahrung mit Post-Covid sammeln können?
Wir befinden uns in einem kontinuierlichen Erfahrungsprozess und lernen jeden Tag dazu. Noch immer sind wir über so manche Konstellationen oder Befunde überrascht. Zunächst auf der Intensivstation: Die Zahl junger Patienten nimmt insgesamt zu. Sogar Kinder müssen dort betreut werden. Aber auch auf der Normalstation gibt es unerwartete Befunde, Konstellationen, die wir noch bis eben für nicht möglich erachtet haben.
Zweitinfektionen zum Beispiel. Fälle, in denen sich das Virus über längere Zeit in Körpernischen versteckt und dann wird es aus unerklärlichen Gründen reaktiviert. Auch die Arbeit in der Ambulanz war und ist in vielerlei Hinsicht überraschend. Unser ältester Patient war 84 Jahre, der jüngste 17 Jahre alt.
Dass so viele junge Menschen uns aufsuchen, hatten wir nicht erwartet. Das mittlere Alter unserer Patienten ist 51 Jahre. Das heißt: Die eine Hälfte ist über, die andere unter 51 Jahre alt. 51 Jahre – das ist doch noch „in den besten Jahren“. Die Annahme, dass das Post-Covid-Syndrom schwerpunktmäßig alte oder auch nur vorerkrankte Menschen betrifft, trifft somit nicht zu.
Wie häufig ist denn das Syndrom?
Nach acht, neun Monaten Erfahrung mit diesem neuen Krankheitsbild wissen wir: 60 bis 70 Prozent der Covid-Patienten, die stationär behandelt wurden, haben mit Folgeproblemen zu tun. Bei denjenigen, die wegen der Infektion nicht ins Krankenhaus mussten, sind etwa 20 Prozent betroffen.
Das Spektrum der Symptome ist breit. Wirklich stark betroffen und deutlich in der Lebensqualität eingeschränkt sind 20 bis 30 Prozent der einst stationären Patienten und etwa zehn Prozent derer, die einen vergleichsweise leichten Verlauf hatten.
Aber auch andersrum beobachten wir Entwicklungen. Patienten, denen es wieder gut ging und bei denen es dann unerwartet zu einer dramatischen Verschlechterung kommt. Hier reagieren wir mit Notfall-Terminen. Insgesamt können wir die vielen Anfragen seit Monaten nur schwer bewältigen. Ich bin froh, dass sich bundesweit immer mehr Häuser – nicht nur Unikliniken übrigens, auch Rehabilitationseinrichtungen und Schwerpunktpraxen – dem Thema Post-Covid widmen.
Im Moment müssen wir leider weiter damit leben, dass wir dieses Phänomen nicht vollständig erklären können. Insgesamt ist uns das Krankheitsbild von Covid-19 über die Zeit vertrauter geworden. Manches, was anfänglich angenommen wurde, musste korrigiert werden.
Zunächst dachte man, Covid-19 sei so etwas wie eine „schwere Lungenentzündung“. Diese Einschätzung war falsch. Vielmehr ist Covid-19 eine Erkrankung, durch die sämtliche Organe des Patienten geschädigt werden können, und das auch langfristig. Das Virus tritt über den oberen Respirationstrakt, die Atemwege, in den Körper ein, vermehrt sich dort und löst dann so etwas wie eine „Gefäßentzündung“ im Körper aus. Sämtliche Gefäße und damit alle Organe im Körper können betroffen sein.
Häufig kommt es zu Herzmuskelentzündungen, Vernarbungen in der Lunge; aber auch neurologische Störungen bis hin zum Schlaganfall beobachten wir. Da kommen junge Menschen, 18 oder 20 Jahre alt, mit einer Lähmung des Armes oder des Beines. Im Rahmen der Untersuchungen finden wir zunächst die besagten Gefäßentzündungen. Erst im zweiten Schritt sehen wir, was dahintersteckt, nämlich eine Covid-19-Erkrankung.
Entzündliche Prozesse in den Gefäßen sind die eine Komponente der Erkrankung. Eine zweite ist, dass Covid-19 über eine überschießende Aktivierung der körpereigenen Abwehr zu Organschäden führen kann. Das Virus scheint eine Kaskade im Immunsystem auszulösen, ähnlich einer Autoimmunerkrankung.
Ein bisschen kann man sich das vorstellen wie bei einem Waldbrand, bei dem die Feuerwehr, unser Immunsystem, ein „Gegenfeuer“ legt. Das Gegenfeuer gerät außer Kontrolle, vielleicht bläst der Wind plötzlich in eine andere Richtung. Und dann verbrennt der ganze Wald. Ein Stück Wald, das bis eben manchmal noch völlig gesund und intakt war.
Da sieht jemand den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr – dieser Spruch scheint auf Sie jedenfalls nicht zuzutreffen.
Tatsächlich bemühen wir uns um den breiten Blick, wir versuchen, den ganzen Menschen zu sehen. Warum hat jemand noch Wochen oder Monate nach einer überstandenen Infektion Beschwerden? Vieles ist denkbar. Die Symptome können direkt mit der Infektion zu tun haben, indirekt sein oder aber auch rein gar nichts damit zu tun haben.
Es kann sein, da kommt jemand zu uns, der vor drei Monaten an Corona erkrankt war und dem es immer noch nicht gut geht. Und dann stellt sich im Rahmen von Untersuchungen ein Dickdarmtumor heraus. Außer der zeitlichen Komponente gar kein Zusammenhang mit Covid also. Es ist wichtig, die Patienten nicht mit Scheuklappen zu betrachten, den Blick zu öffnen, wie gesagt. Dazu gehört für mich auch, von vorschnellen Antworten auf die vielen Fragen Abstand zu nehmen.
Wenn Sie sagen, die Post-Covid-Beschwerden können eine direkte oder auch eine indirekte Folge der Infektion sein – können Sie das genauer erklären?
Eine gute Frage und eine unbefriedigende Antwort: Nehmen wir die Psyche, die in der Folge der Virusinfektion belastet sein kann. Symptome wie gesteigerte Ängstlichkeit, Konzentrationsstörungen oder Depressionen können spezifische Covid-Symptome sein. Oder aber sich auch indirekt aus der Verarbeitung der Krankheit erklären.
Wo wir den genau krankmachenden Mechanismus von Covid-19 noch immer nicht verstanden haben, ist die Erklärung der Folgeerkrankungen ebenfalls schwierig, das muss man klar sagen. Vieles ist noch eine Art von „herantasten“.
Ist das nicht zusätzlich belastend für die Patienten, wenn Sie sie hier ein Stück weit im Ungewissen lassen?
Zum ehrlichen Umgang gibt es keine Alternative. Die Patienten da abholen, wo sie sind – darum geht es. Für viele ist es wichtig, überhaupt mal gehört zu werden. „Sei froh, du hast es doch überstanden“, das müssen sich manche wieder und wieder anhören. Nach dem Motto: „Stell dich nicht so an“.
Aber so ist es eben nicht. Post-Covid-Beschwerden sind nicht eingebildet, sie müssen ernst genommen werden, und schon allein dadurch, dass wir uns in der Sprechstunde Zeit nehmen, helfen wir vielen. Wir können nicht alles erklären – sicher, so manch einer, der zu uns kommt, würde vielleicht gerne etwas anderes hören. Aber wir versuchen, die Patienten nicht alleine zu lassen.
Wie genau gehen Sie vor?
Wir versuchen die Probleme der Patienten zu verstehen. Wir fragen die Lebensqualität ab. Schlafstörungen sind ein Punkt. Wir erfassen den körperlichen Leistungsstand und schauen, ob ein chronisches Erschöpfungssyndrom, die sogenannte Fatigue, vorliegt. Auch Depressionen können das Problem sein.
Wir testen die Konzentrationsfähigkeit, setzen dafür zum Teil auch auf neue Medien, nutzen Tablet-gestützte Funktionstests. Fragebögen sind ein wichtiges Instrument. Gründliche körperliche Untersuchungen folgen. Der Ultraschall vom Bauch, ein Lungenfunktionstest und Blutentnahmen. Je mehr Informationen wir haben, desto gezielter können wir im nächsten Schritt zum Spezialisten überweisen. Zum Neurologen etwa, zum Schmerztherapeuten oder auch zum Hals-Nasen-Ohrenarzt.
Würde mich jemand fragen, was im Moment unser Kerngeschäft ist, würde ich sagen: Wir verstehen uns als eine Art Lotse, der die Probleme der Patienten einzugrenzen versucht und bei der Navigation hilft. Es braucht umfassende interdisziplinäre Expertise, um zu überblicken und dann konkret aktiv werden zu können.
Manches haben wir über die Rückmeldungen der Patienten gelernt. Inzwischen wissen wir zum Beispiel, wie wichtig die Selbsthilfe sein kann. Dass Betroffene mit Folgeschäden sich – im Moment natürlich nur virtuell – treffen und austauschen. In Räumen, frei von Corona-Leugnung oder auch nur Relativierung.
Auf der körperlichen Ebene empfehlen wir Sportprogramme. Kein Marathon, aber dreimal die Woche ein moderates Training. Drei Monate nach der Erkrankung leiten wir standardmäßig außerdem eine blutverdünnende Therapie ein. Damit wollen wir die Gefahr von Gefäßverschlüssen reduzieren.
Die Patienten wollen sicher wissen, wie ihre Prognose ist. Was sagen Sie ihnen?
Mit genauen Zahlen können wir hier noch nicht dienen. Die ehrliche Antwort ist: Bei einer ganzen Reihe, den allermeisten Patienten, bilden sich die Beschwerden langsam zurück. Es gibt aber auch leider Patienten, die bleibend unter Folgeschäden leiden werden. Wir müssen hier die Entwicklung abwarten. Covid-19 ist keine „Grippe“, und das wissen die meisten Menschen inzwischen auch.