Infektionsorte im CheckFriseure, Büros, Klassenzimmer: Berliner Forscher zeigen, wo wir uns mit Corona anstecken
16. Februar 202116:35:03
Der neue Lockdown-Beschluss sieht vor, dass Friseure im März wieder öffnen dürfen. Wissenschaftler der TU Berlin haben analysiert, wie hoch das Infektionsrisiko dort tatsächlich ist – und an welchen anderen Orten die Corona-Gefahr am größten ist.
Der Lockdown geht weiter, die Geschäfte bleiben geschlossen – doch ab 1. März dürfen die Friseure wieder öffnen. Was nach Bayerns Ministerpräsident Markus Söder etwas „mit Hygiene – aber auch mit Würde“ zu tun hat, sorgt derzeit für große Diskussionen.
Die zentrale Frage: Ist die Ansteckungsgefahr beim Waschen, Schneiden, Legen tatsächlich geringer als in anderen Bereichen?
Um hier Klarheit zu schaffen untersuchte ein Forscherteam der TU Berlin, wo das Infektionsrisiko am höchsten ist. Dabei betrachteten die Wissenschaftler um Martin Kriegel und Anne Hartmann nicht nur den Friseur, sondern auch Theater, Supermärkte, Büros, Fitnessstudios und viele weitere Orte, in denen das alltägliche Leben bald wieder stattfinden soll. Im Vordergrund der Untersuchung stand die Frage, wie stark sich das Virus über Aerosole, also kleinste in der Luft schwebende Viruspartikel, überträgt.
Wo ist die Ansteckungsgefahr am größten? Die Methode der Studie:
Um die verschiedenen Örtlichkeiten miteinander zu vergleichen, definierten die Aerosol-Experten des Berliner Hermann-Rietschel-Instituts einen „situationsbedingten R-Wert“. Dieser gibt an, wie viele Menschen sich in einer bestimmten Situation vermutlich anstecken würden. Sie gingen davon aus, dass sich jeweils ein Infizierter mit weiteren Gesunden in einem Raum aufhält.
Als Basis für die Berechnung des Infektionsrisikos bezogen die Wissenschaftler sich auf die eingeatmete Viren-Dosis. Diese hängt ab von:
- Quellstärke (Emissionsrate)
- Atemaktivität (Quelle und Empfänger)
- Aerosolkonzentration im Raum und
- Aufenthaltsdauer im Raum.
In den verschiedenen Settings gingen die Forscher davon aus, dass Hygiene- und Abstandsregeln eingehalten werden. Auch den Effekt von Masken bezogen sie in ihre Berechnungen mit ein. Sie orientierten sich zudem an Daten aus früheren Studien zur Aerosolkonzentration, die sie im Jahr 2020 bereits durchgeführt hatten.
Hermann-Rietschel-Institut, FG Energie, Komfort und Gesundheit in Gebäuden, TU Berlin Das Fazit der Forscher fällt wie folgt aus:
Geringes Infektionsrisiko:
Am geringsten ist die Ansteckungsgefahr in Theater, Oper oder Museum. Allerdings nur unter der Voraussetzung, dass die Räume nur zu jeweils 30 Prozent belegt waren. Hierfür ermittelten die Wissenschaftler einen situationsbedingten R-Wert von 0,5. Bei einer Belegung von 40 Prozent steigt der R-Wert auf 0,6 an.
An zweiter Stelle folgt der Friseurbesuch, sofern er mit Maske stattfindet. Hier liegt der R-Wert ebenfalls bei 0,6.
Zudem ermittelten die Forscher im öffentlichen Nahverkehr ein relativ geringes Ansteckungsrisiko mit einem R-Wert von 0,8. Auch hier gilt dann allerdings: Maske tragen ist Pflicht.
Mittleres Infektionsrisiko:
Etwas höher lag R-Wert stattdessen beim Einkaufen im Supermarkt mit Maske, dort liegt er bei 1,0. In diesem Szenario wird sich im Schnitt also maximal eine weitere Person mit Sars-CoV-2 infizieren. Beim Shopping mit Maske etwa in Bekleidungsgeschäften und 10 Quadratmetern Ladenfläche pro Person erhöhte sich der Wert leicht auf 1,1.
Dass das Risiko hier höher ist als etwa bei einem Friseurbesuch, erklären die Forscher mit dem Aktivitätsgrad. Während man beim Friseur nur ruhig dasitze, bewege man sich beim Einkaufen mehr und produziere somit auch mehr Aerosole.
Ebenfalls bei 1,1 lag der Wert in Restaurants, sofern diese nur zu einem Viertel belegt waren, sowie in Kinos mit einer Belegung von 40 Prozent ohne Maske. Leicht verringert wurde dort das Risiko bei einer Belegung von 30 Prozent, dann steckte sich hier bei einem Wert von 1,0 im Schnitt nur genau eine Person an.
Im Gegensatz zum öffentlichen Nahverkehr ermittelten die Wissenschaftler in Fernbahn und -bus hingegen einen R-Wert von 1,5. Diese Berechnung bezieht sich auf eine dreistündige Fahrt bei halber Belegung.
Hohes Infektionsrisiko:
Der erhöhte Aktivitätsgrad spielt auch beim Infektionsrisiko in Fitnessstudios eine Rolle. Die schwere körperliche Aktivität erhöht laut den Forschern den Aerosolausstoß. Ist das Studio nur zu 50 Prozent belegt, und tragen alle Personen eine Maske, liegt der R-Wert zwar nur bei 1,4. Tragen die Personen jedoch keine Maske, erhöht sich die der Wert auf 3,4.
Auch in Büros besteht hohes Infektionsrisiko: Bei 20 Prozent Belegung und mit Maske liegt der R-Wert zwar nur bei 1,6. Ist das Büro jedoch zu 50 Prozent besetzt und wird auf Masken verzichtet, steckt ein Infizierter durchschnittlich 8 weitere Personen an.
Noch höher ist die Ansteckungsgefahr laut Kriegel und Kollegen in Klassenzimmern: Selbst mit Maske infizieren sich dort bei halber Belegung durchschnittlich 2,9 Personen. Ohne Maske sind es 5,8, bei Vollbesetzung sogar 11,5. Das ist der höchste situationsbedingte R-Wert, den die Wissenschaftler im Rahmen ihrer Studie ermittelten.
Virologe warnt: Friseurbesuch ist „virologisch begründbar“ – aber das sind andere Bereiche auch
Dass Friseure schon ab 1. März wieder öffnen dürfen, lässt sich also mit dem geringen Infektionsrisiko begründen, welches die Wissenschaftler im Rahmen ihrer Untersuchungen ermittelten.
Virologe Martin Stürmer warnte jedoch im Gespräch mit FOCUS Online: „Es gibt viele Bereiche, in denen das Infektionsrisiko ähnlich hoch ist wie bei einem Friseurbesuch. Etwa in der Pflege, in einem Nagelstudio oder bei einer Massage – auch da wäre eine Öffnung theoretisch virologisch begründbar.“
Andere Unternehmen könnten nach dieser ersten Lockerung klagen, für sich ebenso Öffnungen einfordern. „Und dann ist es plötzlich nicht mehr nur noch ein Bereich, nur noch ein Laden“, meint Stürmer. „Dann werden es immer mehr Orte, an denen Menschen zusammenkommen und sich infizieren können.“ Das könnte zu einem Akzeptanzproblem führen – bei den Unternehmen, und in der Bevölkerung selbst.
Auch um weiter Öffnungen zu ermöglichen, fordert der Mediziner weitere Studien. „Wir haben in diesem Jahr viele Daten gesammelt“, sagt Stürmer. „Aber die meisten davon stammen aus einer Zeit, in der ein Lockdown herrschte oder Maßnahmen verhängt worden waren. Die Untersuchungen bilden also nicht die Realität ab, in der keine Maßnahmen gelten.“
Das gilt auch für die TU-Studie, die das Infektionsrisiko ja teils mit Maske, teils mit nur halber oder noch geringerer Belegung untersucht hatte. Laut Stürmer solle man stattdessen künftig mit Simulationen herausfinden, wie „gefährlich“ etwa ein Friseurbesuch oder Fitnesskurs tatsächlich sei. „Und dann können wir auch Regeln festmachen, nach denen wir nach und nach wieder lockern. Und dann können wir hoffentlich zurück zur Normalität kehren.“