„Wie Sklaven gehalten“: Tönnies-Mitarbeiter packen über ihren Arbeitgeber aus

19. Juni 2020 Aus Von mvp-web

Nach dem Corona-Ausbruch bei der Fleischfabrik Tönnies rücken die Arbeitsbedingungen bei der Firma in den Vordergrund der Diskussion. In einem Buch berichten Mitarbeiter über ihre Lage und bezichtigen Tönnies, sie wie Sklaven zu halten.

Der Corona-Ausbruch beim Fleischproduzenten Tönnies aus Rheda-Wiedenbrück offenbart zunehmend die Missstände in der Fleischindustrie. Gestern wurde in Rheda-Wiedenbrück das Buch „Das Schweinesystem. Aufhebung der Werkverträge und des Subunternehmertums“ vorgestellt. Ex-Mitarbeiter erheben darin schwere Vorwürfe gegen ihren einstigen Arbeitgeber Tönnies.

Kakerlaken in Backöfen

In dem von „Jour Fix Gewerkschaftslinke Hamburg“ herausgegebenen Buch berichten die ehemaligen Werkvertragsarbeiter über psychischen und körperlichen Stress, angeblich brutale Vorarbeiter, zu lange Arbeitszeiten, unbezahlte Überstunden, mangelnden Arbeitsschutz, Drohungen und Gesundheitsgefährdung. Sie erzählen von unzumutbaren Wohnverhältnissen und Ausbeutung. Ihre Erlebnisse schildern sie unter den Pseudonymen Ben und Vasile. Vasile: „Wenn du zum Beispiel Kontakt zur Gewerkschaft hattest, fliegst du raus.“ Sein ehemaliger Kollege Ben berichtet: „Meine längste Schicht ging 21 Stunden. Geld habe ich für die Überstunden nicht gesehen. Auch wenn ich 15 Stunden gearbeitet habe, wurden mir nur acht bezahlt.“

Einmal habe er sich an der Hand verletzt. Der Vorarbeiter habe ihn jedoch angewiesen, weiter zu arbeiten. Nach drei Tagen sei die Hand schwer entzündet gewesen; als er deswegen krank zu Hause bleiben musste, wurde ihm mit Kündigung gedroht. In den Unterkünften seien Kakerlaken in den Backöfen herumgelaufen, im Zehnbett-Zimmer habe er am Tag kaum schlafen können. Das Fazit der beiden Männer, die aus Rumänien kommen: „Wir wurden wie Sklaven behandelt.“

Pfarrer: „Schuften sich zu Tode“

Pfarrer Peter Kossen aus Lengerich bestätigt im Gespräch mit FOCUS Online die Vorwürfe. Er kämpft seit acht Jahren für bessere Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie und vor allem gegen die Werkverträge für die Arbeiter, die überwiegend aus Bulgarien und Rumänien kämen. Der Geistliche zeigte FOCUS Online Abrechnungen, auf denen ein anderer Fleischproduzent den Arbeitern etwa Kosten für die Nutzung von Sicherheitsschuhen oder Messern berechnete. Kossen kennt viele Arbeiter persönlich, da sein Bruder als Internist in Vechta täglich Arbeitsmigranten, Frauen wie Männer, aus Rumänien, Bulgarien und Polen behandelt.

„Viele Arbeiter werden über die Jahre hinweg chronisch krank“, berichtet Pfarrer Kossen. „Sie gehen nicht oder zu spät zum Arzt, weil sie Angst haben, ihren Job zu verlieren. Sie sind eingeschüchtert und teilweise in einem katastrophalen körperlichen wie mentalen Zustand. Sie schuften sich im wahrsten Sinne des Wortes zu Tode, haben keinen Anspruch auf Lohnfortzahlung und bezahlten Urlaub.“  Krankenversichert seien die Arbeiter hingegen. „Wenn sie sich behandeln lassen dürfen, sind sie versichert“, sagt Peter Kossen. Was er damit meint: „Die Subunternehmer bauen einen ungeheuren Druck auf. Die Patienten meines Bruders berichten von Drohungen: „Wer mit dem gelben Schein kommt, kann gehen“.

Über Gehalt entscheidet Subunternehmer

Die Unterkünfte der Werkvertragsarbeiter in den Fleischkonzernen seien katastrophal, berichtet der engagierte Pfarrer, der sich nach dem Corona-Ausbruch bei Westfleisch in Coesfeld Anfang Mai mit einem großen Protestschild vor die Werkstore gestellt hatte: „Rattenlöcher werden als Wohnungen vermietet: 500 Euro für 17 Quadratmeter einer verschimmelten Bruchbude, ohne ausreichende Elektrizität mit undichtem Dach.“

Kossen beschreibt das System der Werkverträge an einem Beispiel: „Fleischkonzern X schließt einen Werkvertrag mit dem Subunternehmen Y über die Austrennung von 100.000 Hinterschinken. Über die Höhe des Gehalts und Arbeitszeit entscheidet allein der Subunternehmer“, erklärt Peter Kossen. „Das Gehalt ist jedoch meist ein Hungerlohn.“

Heils Vorschlag soll erst nach Sommer besprochen werden

Den Fleischkonzernen darf es egal sein, Hauptsache, die Hinterschinken werden zügig ausgetrennt. Sie sind einzig für die Einhaltung der Arbeits-und Hygienevorschriften in ihren Produktionsstätten verantwortlich, für die Unterkünfte wiederum der Werkvertragsarbeiter nach geltendem Recht nicht. Die werden in der Regel von den Subunternehmern gestellt, auch Deutschlands größter Schlachtkonzern Tönnies mit einem Jahresumsatz von sieben Milliarden Euro und einem Marktanteil von knapp 30 Prozent bei Schweinen hat mit den Wohnungen nichts zu tun.

Genau dies kritisiert Nordrhein-Westfalens Arbeits-und Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann scharf: „Die Besitzer der Betriebe sind nicht mehr verantwortlich für die Mitarbeiter, die Werkverträge haben.“ Im WDR forderte er: „Der, der einen Schlachthof besitzt, muss Verantwortung für seine Mitarbeiter übernehmen.“ Das System der Werkverträge müsse abgeschafft werden, so der CDU-Politiker.

Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) hat dafür eine Gesetzesinitiative auf den Weg gebracht, die aber zum Ärger von Laumann erst nach der Sommerpause beraten werden soll: Ab dem 1. Januar 2021 soll das Schlachten und Verarbeiten von Fleisch nur noch mit Mitarbeitern des eigenen Betriebes erlaubt sein.  Werkverträge für diese Branche dürfte es danach nicht mehr geben. Die Arbeitgeber sollen verpflichtet werden, die Behörden über Wohn-und Einsatzorte ausländischer Arbeitskräfte zu informieren. Die Arbeitszeiten sollen digital erfasst werden. Die Bußgelder bei Verstößen will Heil auf 30.000 Euro verdoppeln. Bei Kontrollen allein in Nordrhein-Westfalen stellten die Behörden im vergangenen Jahr in 26 von 30 Fleischbetrieben schwere Verstöße fest, schreibt die Saarbrücker Zeitung. Arbeitsschichten von mehr als zwölf Stunden seien nicht selten gewesen.

Hubertus Heil will damit Schluss machen: „Für ein Geschäftsmodell, das Ausbeutung und eine Ausbreitung von Pandemien in Kauf nehme, kann es in Deutschland keine Toleranz geben“, sagte Arbeitsminister Hubertus Heil nach den Vorfällen bei Westfleisch in Coesfeld Mitte Mai.

Teile der Wirtschaft kritisieren das Vorhaben, weil sie befürchten, dass Werkverträge auch in anderen Branchen abgeschafft werden sollen, was Heil nach eigenen Angaben nicht plant. Der Deutsche Gewerkschaftsbund, der seit Jahren das verschachtelte System der Subunternehmen anprangert, begrüßt hingegen die Pläne des Arbeitsministers und wirft den Fleischkonzernen in Deutschland  „organisierte Verantwortungslosigkeit“  vor.

Neffe streitet mit Clemens Tönnies über Werkverträge

Prominente Unterstützung bekommen Politiker und Gewerkschafter ausgerechnet aus dem Haus, in dem sich 730 Menschen infiziert haben (Stand Freitag 15 Uhr) und das für die neuerliche Schließung von Kitas und Schulen im Kreis Gütersloh von den aufgebrachten Bewohnern verantwortlich gemacht wird: Robert Tönnies (42), Neffe des Firmen-Patriarchen Clemens Tönnies streitet sich seit Jahren mit seinem Onkel und dem Unternehmensbeirat über die Werkverträge.

Seit 2017 wirft der Sohn des verstorbenen Bernd Tönnies, der wie Clemens Tönnies 50 Prozent der Anteile an dem Unternehmen hält, der Geschäftsleitung und dem kontrollierenden Beirat vor, geltende Unternehmensleitsätze zur Abschaffung von Werkverträgen nicht umzusetzen. In einem offenen Brief vom 17. Juni greift er Clemens Tönnies nach dem Corona-Debakel frontal an:

„Leider liegt uns heute das Ergebnis Ihrer Blockadehaltung (…) und Ihrer sorglosen, unverantwortlichen Haltung hinsichtlich der Risiken aus der Corona-Pandemie vor“, und er schreibt weiter: „Dass gerade in Schlachtbetrieben die Infektionszahlen weit überdurchschnittlich hoch sind, ist ganz sicher auch dem System der Werkverträge geschuldet; es zwingt viele Arbeiterinnen und Arbeiter in unzumutbare Wohnverhältnisse, die mit einem hohen Ansteckungsrisiko verbunden sind und nur wenig Schutzmöglichkeiten bieten, wenn einmal eine Infektion auftritt“. Robert Tönnies gibt seinem Onkel die Hauptschuld an dem Corona-Ausbruch mit derzeit über 730 Infizierten. Er habe unverantwortlich gehandelt und Unternehmen wie Bevölkerung gefährdet. Robert Tönnies fordert seinen Onkel daher offen zum Rücktritt auf.

Für ihr Engagement gegen die Arbeits-und Wohnverhältnisse bei der Firma Tönnies und die Gründung der Interessengemeinschaft Werkfairträge erhielt sie bereits Auszeichnungen für Zivilcourage. Im Jahr 2012 lernte sie im Krankenhaus eine Mitarbeiterin der Firma Tönnies kennen. Die Mazedonierin war bis auf die Knochen abgemagert. Da Bultschnieder ein wenig mazedonisch spricht, kam sie mit der Frau ins Gespräch. „Sie erzählte mir, dass sie Angst habe und Hilfe brauche.“ Inge Bultschnieder schaute sich ihre Unterkunft und auch die Männerwohnungen an und war geschockt: „Ich habe Rotz und Wasser geheult.“ Die Arbeiter schliefen auf Matratzen, die Tapeten an den Wänden waren abgerissen. Acht bis zehn Leute auf engstem Raum. „Menschenunwürdig“, sagt Bultschnieder. Und in Corona-Zeiten brandgefährlich.
Freitag, 19.06.2020, 18:58