Covid-19-Genesener: „Gehen zu sorglos mit Corona um – jeder denkt, mich trifft es nicht“
19. Juni 2020Andreas Weigel ist Mitte 50, sportlich und kerngesund. Kein Grund, sich wegen Corona zu sorgen, denkt er, als er grippeähnliche Symptome bemerkt. Wenige Tage später liegt er im künstlichen Koma und wird beatmet. Ein Weckruf.
Manches ist in diesen Tagen schwer erträglich für Andreas Weigel. Da sieht er zwei ältere Damen, sie drücken sich in einen Aufzug rein, in dem schon andere stehen. Das Schild – „maximal zwei Leute“ – ignorieren sie. Er sieht Kellner, die den Mundschutz am Kinn haben, so, dass sie ihn rasch hochstülpen können, wenn jemand vom Ordnungsamt kommt. Er bekommt mit, wie Menschen denselben Mundschutz tagelang tragen.
Das ist nicht witzig, denkt er sich. Begreift ihr denn nicht, was hier los ist? Genau das ist der Grund, weshalb er seine Geschichte erzählt. Auch, wenn er eigentlich lieber nach vorne schauen möchte statt zurück.
Mit ein bisschen Halsschmerzen fing alles an
Es war der 20. März, Frühlingsanfang. Andreas Weigel bemerkte, dass es ihm nicht gut ging. Ein grippaler Infekt, dachte er. Er fühlte sich schlapp, hatte etwas Halsweh. Kein Husten und kein Fieber, daher kam er nicht auf die Idee, an Corona zu denken. Drei oder vier Tage später merkte er plötzlich, dass er kein Geschmacksempfinden mehr hat. Das hat ihn hellhörig gemacht: Hatte er das nicht irgendwo im Zusammenhang mit Covid-19 gelesen?
Er kontaktierte seinen Hausarzt. Dessen Worte, als er ihn 36 Stunden später anrief, hat er noch genau im Ohr: Andreas, du bist jetzt Patient Nummer eins in meiner Praxis. Recht gelassen klang er dabei. „Wir kennen uns seit der Schulzeit, haben einen ehrlichen Umgang miteinander“, sagt Weigel. „Weder er noch ich wären auf die Idee gekommen, die Situation in irgendeiner Weise für dramatisch zu halten.“
Andreas nahm die Infektion auf die leichte Schulter
Es sei ja nicht nur so, dass er vom Alter her nicht zur definierten Risikogruppe gehören würde. „Ich lebe auch ziemlich gesundheitsbewusst. Seit Jahren fahre ich Rad, gehe schwimmen, golfe, außerdem laufe ich viel. Jeden Morgen nach dem Aufwachen mache ich Liegestützen und Sit-ups. Mein Gewicht ist seit jeher konstant. Zudem habe ich eine kräftige Lunge, weil ich Posaune spiele.“ Wieso sollte er sich also einen Kopf machen? Ja, er war sicher: bei ihm würde sich das mit dem Virus in einer Woche erledigt haben.
Mehr als mögliche gesundheitliche Einschränkungen beschäftigte ihn sein Umfeld. Wen hatte er möglicherweise angesteckt? Vom Gesundheitsamt kamen jede Menge Unterlagen. Er blätterte im Kalender, überprüfte Termine, kontaktierte die entsprechenden Personen. „Ich lag im Bett, fühlte mich schwach, aber diese Sache war wichtig.“
Irgendwann bekam er besorgte WhatsApp-Nachrichten: Andreas, ich mache mir Sorgen, du klangst komisch eben am Telefon. Möchtest du nicht doch besser ins Krankenhaus fahren? Tatsächlich waren es solche Nachrichten, die ihn schließlich dazu bewegt haben. Er selbst hat das gar nicht so richtig gemerkt, wie die Kraft immer mehr aus seinem Körper gegangen ist.
Im Krankenhaus geht alles plötzlich ganz schnell
Im Krankenhaus nun stellte sich erstmals dar, was passiert war: Covid-19 hatte sich in die Lunge gefressen und ihr die Flügel verklebt. Wieder versuchte er, sich zu beruhigen: Mitte 50, sportlich, kein Übergewicht… das wird schon. Aber dann, als er auf dem Zimmer lag und sich einen Mundschutz aufsetzen wollte, bekam er plötzlich Atemnot.
Er sieht sich noch den Not-Knopf drücken. Dann ging alles ganz schnell. „Seit meiner Jugend trage ich eine Halskette und einen Ring. Das letzte, woran ich mich erinnere, ist, wie sie mir die Halskette abnehmen und an meinem Ring ziehen, der nur schwer vom Finger geht.“ Wir versetzen Sie in ein künstliches Koma, sagt ein Arzt.
Erst nachdem er nach zwei Wochen im Koma wieder aufgewacht war, erfuhr er, dass er vom Kreiskrankenhaus an seinem Heimatsort mit dem Hubschrauber ans Universitätsklinikum verlegt worden war. An nichts davon kann er sich erinnern. Es tat gut, Bilder wie Puzzleteile ineinander zu fügen, langsam zu begreifen. Doch vieles von dem, was jetzt kam, war weiterhin unerträglich. Das Absaugen von Schleim aus der Lunge etwa, jedes Mal hatte er Angst, zu ersticken. Schlimm war auch, dass ihm der Code seines Handys nicht wieder eingefallen war. Und er konnte ja nicht sprechen, brauchte das Gerät daher so unbedingt.
Nach dem Koma folgen noch zwei weitere Operationen
Drei Tage lang hat er verschiedene Zahlenkombinationen getippt, erfolglos. Er bemerkte, dass nicht nur sein Gedächtnis litt, auch die Feinmotorik in seiner rechten Hand hatte er verloren. Schließlich fiel ihm der Code wieder ein. Die Erfolge kamen in kleinen Schritten. Zwölf Tage nachdem er aus dem Koma aufgewacht ist, stand er das erste Mal wieder auf. Es gibt ein Foto davon: Wie er in Flügelhemd und OP-Schuhen einen fahrbaren Stuhl schiebt. Wenige Meter, dann ist keine Kraft mehr da.
Die Schwäche hängt auch damit zusammen, dass er 15 Prozent seines Körpergewichts verloren hat. Durch das Virus? Oder sind das die normalen Begleiterscheinungen des langen Liegens? Manches lässt sich schwer voneinander trennen. Weil sich durch die Beatmung im Hals ein Hämatom gebildet hatte, musste Andreas Weigel zweimal operiert werden. Zweimal Vollnarkose, das war natürlich zusätzlich belastend.
Sie sind ein zäher Bursche, hörte er von Schwestern und Pflegern. Bald ist er die ersten 40 Schritte gegangen, dann waren es 4000, der Appetit kam zurück. Nicht das Körpergewicht allerdings, das ist bis heute weitestgehend unten geblieben. Weigel hat den Eindruck, der Körper braucht die Energie zunächst für wesentliche Prozesse, bevor er es sich leisten kann, etwas anzusetzen. „Aber ich bin zuversichtlich: Es geht weiter voran“.
Andreas leidet immer noch unter den Folgeschäden
Zweieinhalb Monate ist es nun her, dass Andreas Weigel sich mit Covid-19 infiziert hat. Seit einigen Tagen fährt er wieder Rad. Den ein oder anderen Hügel ist er zügig raufgekommen. „Was auffällt, ist ein gelegentliches Ziehen im Rücken, ein bisschen so wie Seitenstechen. Da, wo die Lungen sitzen, meine ich.“ Eine Corona-Begleiterscheinung? Oder hat auch das mit den fehlenden Muskeln zu tun? Gelenkschmerzen sind auf jeden Fall ein „großes Thema“. „Und dass ich beim Treppensteigen außer Atem komme, was ich von früher so nicht kenne.“
Was macht das Virus langfristig? Werden irgendwelche Schäden bleiben? Niemand kann ihm das sicher sagen. Als schwer an Covid-19-Erkrankter ist er Teil einer Studie, wird regelmäßig untersucht. Zu seinem Körper wird es im Laufe der Zeit also mehr und mehr Erkenntnisse geben. Und zu seiner Seele? Nie hat er eine solche Sehnsucht verspürt, gelbe Rapsfelder zu sehen, wie auf der Intensivstation im Krankenhaus. Und nie war er so im Zwiespalt wie jetzt, wo er mit dem Rad über genau diese Felder fährt.
„Ich fühle mich frei, bin dankbar. Aber ich bin auch besorgt, würde zurzeit beispielsweise nicht Zug oder Bus fahren wollen. Dabei wäre es für mich, der Antikörper gegen Covid-19 gebildet hat, nach allem was wir wissen, sicher. Diejenigen, die wirklich in Gefahr sind, sind sorglos unterwegs. Zu sorglos für mein Gefühl. Jeder denkt: Mich trifft das schon nicht.“