Tönnies und Corona – 1331 Infektionen : „Ein Staat im Staat“
21. Juni 2020Die Arbeitsbedingungen in vielen Fleischbetrieben sind ein Problem, nun leiden Arbeiter auch noch unter wachsendem Rassismus. Zwei Tönnies-Mitarbeiter berichten.
Nach wenigen Minuten ploppt die erste Whatsapp-Nachricht auf, sie kommt von einem Mann, der hier Marius Popescu* heißen soll. Die SZ hat in einer Facebook-Gruppe für Rumänen in Nordrhein-Westfalen nachgefragt, wer über die Arbeit in der Fleischindustrie sprechen will. Seit 2015 hat Popescu für die Firma Tönnies gearbeitet, bis er vor rund drei Wochen in Quarantäne musste. Auf das Fleischunternehmen blicken nun viele im Land, weil sich mehr als 1000 Mitarbeiter mit Covid-19 infiziert haben.
Popescu spricht ruhig und abgeklärt. Es sei ja nicht alles an der Branche schlecht, sagt er. Vieles, was er berichtet, erklärt allerdings, warum kaum jemand in Schlachtfabriken arbeiten will.
1331 Infektionen bei Tönnies, kein Lockdown für Gütersloh
- NRW-Regierungschef Laschet sagt über den Corona-Ausbruch im Kreis Gütersloh: Das Infektionsgeschehen sei klar bei der Firma Tönnies lokalisierbar.
- In Deutschland nähert sich die Zahl der Corona-Infizierten nach Angaben des Robert-Koch-Instituts der Marke von 190 000.
- Aufgrund lokaler Ausbrüche – unter anderem auf dem Tönnies-Schlachthof sowie in Magdeburg und im Berliner Stadtteil Neukölln – ist die R-Zahl laut RKI gestiegen.
- Die seit Dienstag verfügbare Corona-Warn-App ist mittlerweile fast zehn Millionen Mal heruntergeladen worden.
Ministerpräsident Laschet über den Ausbruch auf dem Tönnies-Schlachthof
Nach dem Corona-Ausbruch beim Fleischverarbeiter Tönnies sehen die Behörden keinen Grund für einen Lockdown im Kreis Gütersloh. Es gebe zwar „ein enormes Pandemie-Risiko“, sagte NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU). Das Infektionsgeschehen sei aber klar bei der Firma Tönnies lokalisierbar, und es gebe keinen „signifikanten Übersprung“ hinein in die Bevölkerung. Deshalb gelte weiterhin der Satz, „dass wir einen flächendeckenden Lockdown im Moment nicht ausschließen können, aber solang‘ wir alles tun, dass es gelingt, dass es nicht überspringt auf die Bevölkerung, können wir andere bessere zielgerichtetere Maßnahmen ergreifen“, sagte Laschet.
Die Zahl der Corona-Infizierten in der Tönnies-Fleischfabrik in Rheda-Wiedenbrück stieg bis Sonntag nach Angaben des Kreises auf 1331. Laschet warnte deshalb auch die Bevölkerung: Er rate dazu, noch vorsichtiger zu sein als bisher. „Achten Sie auf Abstand, auf die Masken. Vermeiden Sie große Veranstaltungen. Veranstaltungen über 50 Teilnehmer sollten in der nächsten Zeit – wenn es geht – nicht stattfinden.“ Neue Maßnahmen kündigte er nicht an.
Der Ministerpräsident warnte die Arbeiter aus anderen Ländern vor einer überstürzten Abreise in ihre Heimat. Im Fall einer Infizierung bekämen die Arbeiter die „bestmögliche medizinische Behandlung“ in Deutschland, sagte er. Das liege auch im eigenen Interesse der Arbeiter. Es würden nun in unbegrenzter Größenordnung so viele Dolmetscher wie möglich in die Unterkünfte der Beschäftigten geschickt. Das Problem sei, dass diese auf 1300 Liegenschaften verteilt seien. Drei Hundertschaften der Polizei unterstützten die Ordnungsämter dabei, die Quarantäne durchzusetzen. Nach Angaben des Kreises ist „eine Reihe von Mitarbeitern ganz offensichtlich in die Heimat zurückgekehrt, unter anderem Personen, die negativ getestet worden sind und die die sich abzeichnende Quarantäne hier vermeiden wollten“.
Am Standort Rheda-Wiedenbrück, dem größten Schlachtereibetrieb Deutschlands, arbeiten nach Unternehmensangaben rund 6500 Menschen. Rund die Hälfte aller Beschäftigten in der gesamten Tönnies-Unternehmensgruppe arbeiten nach Angaben eines Sprechers über Subunternehmen für Tönnies. Insgesamt seien Menschen aus 87 Nationen für Tönnies tätig. Die mit Abstand größten Gruppen kommen aus Rumänien und Polen. Rund ein Drittel der Beschäftigten mit ausländischer Nationalität lebt den Angaben zufolge mit ihren Familien in Deutschland.
Die Reihentestungen auf dem Gelände der Firma seien am Samstag abgeschlossen worden, hieß es. Insgesamt 6139 Tests seien gemacht worden. 5899 Befunde lägen bereits vor. Bei 4568 Beschäftigten konnte demnach das Virus nicht nachgewiesen werden. In den vier Krankenhäusern im Landkreis werden derzeit 21 Covid-19-Patienten stationär behandelt. Davon liegen sechs Personen auf der Intensivstation, zwei von ihnen müssen beatmet werden. Fünf der sechs sind nach Angaben des Kreises Tönnies-Beschäftigte.
NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) kritisiert, dass es in den Betrieben nicht transparent zugehe. „Mit der Fleischwirtschaft kann es keine freiwilligen Abmachungen geben“, Themen wie Arbeitszeiterfassung müssten jetzt geregelt werden. Die Arbeitsbedingungen müssten strukturell verändert werden, damit sie humanitärer würden. Ministerpräsident Laschet nahm Unternehmer Clemens Tönnies in die Pflicht. „Wir werden auch Herrn Tönnies beim Wort nehmen, dass er gesagt hat, es kann keinen Zustand geben wie zuvor. Wir brauchen neue Regeln, neue Bedingungen – und das ist auch das, was wir vom Unternehmen erwarten“, sagte Laschet.
Reproduktionszahl in Deutschland steigt deutlich über kritischen Wert
In Deutschland ist die Zahl der Corona-Infizierten nach Angaben des Robert-Koch-Instituts binnen eines Tages um 687 auf 189 822 gestiegen. Die Zahl der Toten beläuft sich demnach auf 8882. Das ist ein Todesfall weniger als in der am Samstag veröffentlichten Statistik. Eine Erklärung dafür lag zunächst nicht vor.
Der Virus-Reproduktionsfaktor „R“ ist nach Angaben des Robert-Koch-Instituts deutlich über den kritischen Wert von „1“ gestiegen. Das sei auf lokal begrenzte Ausbrüche unter anderem auf dem Tönnies-Schlachthof in Gütersloh sowie in Magdeburg und dem Berliner Stadtteil Neukölln zurückzuführen, erklärte das RKI am Samstagabend in seinem täglichen Lagebericht.
Da die Fallzahlen in Deutschland insgesamt auf niedrigem Niveau lägen, beeinflussten diese Ausbrüche den „R“-Wert relativ stark, so das RKI. „Ein bundesweiter Anstieg der Fallzahlen ist daraus bislang nicht abzuleiten.“
Das eher auf kurzfristige Änderungen reagierende „4-Tage-R“ werde aktuell auf 1,79 geschätzt, das ausgeglichenere „7-Tage-R“ auf 1,55, so das RKI. 100 Infizierte stecken damit rechnerisch im Schnitt 179 beziehungsweise 155 Personen an und die Zahl der Erkrankten nimmt damit insgesamt zu.
Am Freitag hatte der „7-Tage-R“, bei 1,17 gelegen, am Donnerstag bei 1,00 und am Mittwoch bei 0,89. Ziel ist ein Wert von unter 1, weil damit die Zahl der Infizierten rechnerisch sinkt. Das ist auch mit Blick auf die Frage wichtig, ob Lockerungen ausgeweitet oder wieder zurückgenommen werden müssten.
Für Tönnies hat Popescu erst Fleisch verpackt, später selbst geschnitten. Er berichtet von 200 Stunden Arbeit im Monat und Unterkünften, in denen sich vor der Pandemie drei bis sieben Personen ein Zimmer teilten. Beides scheint ihn nicht zu schockieren. „Natürlich ist die Arbeit hart.“ Früher war Popescu Soldat, das sei leichter gewesen. Er habe vielleicht ein Zehntel so schwer gearbeitet wie bei Tönnies. Anfangs habe er geglaubt, die Arbeit nicht zu schaffen – das industrielle Schlachten erschien ihm zu brutal. Mittlerweile sieht er seinen Job bei Tönnies als Rampe. Über die Arbeit dort will er in Deutschland einen besseren Job in einer anderen Branche finden.
Wirklich verwundert klingt Popescu nur bei einem Thema. Schon vor rund sechs Wochen seien er und seine Frau auf Corona getestet worden. Danach seien sie weiter zur Arbeit gegangen. Erst zwei Wochen später hätte ihnen jemand die Ergebnisse mitgeteilt: Popescus Frau war positiv. Warum die Auswertung so lange dauerte, kann er nicht verstehen. Auch nicht, dass es danach keine weiteren Tests gegeben habe, und auch keine Informationen. Am nächsten Tag seien er, seine Frau und die gesamte Schicht in Quarantäne geschickt worden. Seitdem habe sich niemand mehr bei ihm gemeldet. Auch andere Arbeiter sagen der SZ und der Beratungsstelle Faire Mobilität, dass es schon seit Längerem einzelne Corona-Fälle bei Tönnies gegeben habe.
„Wer sich beschwerte, wurde schnell nicht mehr gebraucht.“
Nach Marius Popescu melden sich weitere Arbeiter bei der SZ, die meisten sind aufgebracht. Andrei Amariei* schreibt, er wolle Menschen warnen – vor der Ausbeutung auf Schlachthöfen wie dem von Tönnies. Amariei ist aus dem Geschäft ausgestiegen. Von 2015 bis 2019 hat er in Deutschland Fleisch verpackt, die meiste Zeit bei Tönnies in Rheda-Wiedenbrück. Er lebt wieder in Rumänien und ist froh darüber, erzählt er in einem Facetime-Anruf. Die Liste seiner Vorwürfe an Tönnies ist lang. Zu Beginn habe er sieben Wochen ohne freien Tag gearbeitet – und das immer nachts, weil er dringend Geld brauchte. Aber auch andere Arbeiter hätten oft nur einen freien Tag in drei Wochen bekommen. Häufig habe sein Arbeitgeber, wie bei Marius Popescu ein zwischengeschaltetes Subunternehmen, den Lohn manipuliert. Als Amariei die Firmenunterkunft verließ, sei trotzdem weiter Miete abgezogen worden. Wenn sie den Arbeitsplatz putzten, habe das nicht als Arbeitszeit gegolten. Amariei berichtet außerdem von ‚Fehlern‘ in den Lohnabrechnungen, die immer zugunsten des Arbeitgebers ausfielen. Regelmäßig hätten Stunden gefehlt, obwohl die Arbeitszeit doch per Finger-Scan beim Einchecken erfasst werde. „Wer sich beschwerte, wurde schnell nicht mehr gebraucht“, sagt Amariei. Auf Nachfragen lächelt er verlegen, als wäre er selbst überrascht, in so ein System geraten zu sein. Er nennt Tönnies einen „Staat im Staat“. Selbst Kanzlerin Merkel komme da nicht rein, wenn niemand sie hineinlasse. Eigentlich dürfe er nichts über seine Arbeitsbedingungen bei Tönnies berichten, das stehe im Arbeitsvertrag mit seinem Subunternehmer.
Auf Anfragen der SZ reagierte Tönnies bis zum Erscheinen dieses Artikels nicht.
Die Schilderungen von Popescu und Amariei decken sich mit anderen Informationen, etwa denen von Szabolcs Sepsi. Seit 2013 berät der Leiter des Projekts „Faire Mobilität“ in Dortmund Arbeiter zu ihren Rechten.
Sepsi erklärt, wie die Fleischbranche vor rund 30 Jahren industrialisiert und liberalisiert wurde. „Es gibt einen harten Preiskampf durch konkurrierende Subunternehmen.“ Die Fleischindustrie habe das System der Werkverträge auf die Spitze getrieben. Viele Arbeiter könnten jederzeit versetzt werden. Nach seinen Schätzungen kommen von rund 7000 Tönnies-Mitarbeitern in Quarantäne etwa 3500 von Fremdfirmen, etwa 2000 sind Rumänen. Ohne das verworrene System der Subunternehmen hätte Tönnies die Wohnorte der Arbeiter einfacher ausmachen können, sagt Sepsi.
Zwar sei in den vergangenen Jahren in den Unterkünften manches besser geworden. Früher habe er dort Schimmel, Kakerlaken und offene Elektroleitungen gefunden. Wie Popescu erzählt auch Sepsi, dass die Arbeit im Schlachthof für manche Arbeiter ein Sprungbrett bietet, um andere Jobs in Deutschland zu finden. Aber er sagt auch: „Nach wie vor sind die Bedingungen in den Unterkünften sehr beengt.“ Da in vielen Fleischbetrieben rund um die Uhr gearbeitet werde, gebe es in den Unterkünften oft Schlangen vor den Bädern, und kaum einmal Ruhe. Das könne auch Konflikte mit der Nachbarschaft befeuern: „Wenn nachts der Bulli kommt, um Arbeiter abzuholen und laut hupt, glaube ich schon, dass das nervt.“ Sepsi bestätigt, dass Trickserei beim Lohn in der Branche System hat. Die meisten Arbeiter verdienten offiziell den Mindestlohn, müssten aber mehr als vereinbart arbeiten. Im Lauf der Zeit entwickelten manche chronische Schmerzen und würden teilweise von den Subunternehmen ‚aussortiert‘.
Besonders empört seien die Betroffenen in Quarantäne jetzt über die Behauptung, sie seien am langen Wochenende verreist und hätten so bei ihrer Rückkehr das Virus eingeschleppt. De facto hätten viele gearbeitet: „Es gab kein langes Wochenende für die Fleischindustrie“, sagt Sepsi. „Die Aussage ist einfach falsch und sie schürt Rassismus.“
In Arztpraxen soll Tönnies-Mitarbeitern der Eintritt verwehrt worden sein
Schon jetzt gebe es mehr Ausgrenzung: Menschen berichteten ihm, dass Arztpraxen keine Tönnies-Mitarbeiter mehr hinein ließen. Supermärkte sollen Menschen abgewiesen haben, die sie für Rumänen hielten. „Auch in Cosfeld war das schon so“, sagt Sepsi.
Für Andrei Amariei ist das keine große Überraschung. Er sagt: „Rumänen standen immer schon am untersten Ende der sozialen Leiter, auch Polen und Türken schauen auf uns herab.“ Er berichtet von einer rumänischen Bekannten, der es als Verkäuferin in einem Supermarkt verboten gewesen sei, mit rumänischen Kunden Rumänisch zu sprechen. Er erinnert sich einerseits an nette Nachbarn – und andererseits an solche, die jede Gelegenheit nutzten, sich über Rumänen zu beschweren. „Und sei es, dass ein Auto nicht ganz gerade geparkt war.“ Auch über die Äußerungen von Ministerpräsident Armin Laschet ärgert sich Amariei. Am Mittwoch war Laschet gefragt worden, was der Corona-Ausbruch bei Tönnies über die bisherigen Lockerungen aussage. Laschet hatte geantwortet: „Das sagt darüber überhaupt nichts aus, weil Rumänen und Bulgaren da eingereist sind und da der Virus herkommt.“ Im Folgenden hatte Laschet zwar die Unterbringungen als Ursache erwähnt, musste aber nach heftiger Kritik klarstellen: „Menschen gleich welcher Herkunft irgendeine Schuld am Virus zu geben, verbietet sich.“
Amariei glaubt dagegen, Tönnies wie Laschet hätten die Schuld auf diejenigen abschieben wollen, die sich am leichtesten ersetzen ließen: „Sie werden immer jemanden finden, der für wenig Geld hart arbeitet. Die Menschen, die ihnen das Geld in die Tasche stecken, haben sie jetzt auch noch beschuldigt. Das hat doch keinen Anstand.“
SZ.: