Inzidenz steigt, aber nicht wegen Öffnungen: Daten zeigen, wie sich Mutation ausbreitet
16. März 202116:19:56
Alle wichtigen Zahlen, Daten und Fakten zur Covid-19-Pandemie: FOCUS Online gibt Ihnen den Durchblick im Informationsdschungel rund um das Coronavirus. Wir zeigen Ihnen jeden Tag die wichtigsten, aktuellen Trends zu Covid-19 – heute zu B.1.1.7.
Deutschland hat den harten Lockdown beendet. Seit 1. März 2021 dürfen Schulen und Kitas wieder öffnen, seit 8. März Buchhandlungen und Gartenmärkte – und je nach Inzidenz auch mancherorts Museen, Zoos und der Einzelhandel. Dass die Corona-Zahlen mit den Lockerungen steigen könnten, war zu befürchten. Trotzdem ist es voreilig, den Anstieg der deutschlandweiten 7-Tage-Inzidenz allein den Öffnungen zuzuschreiben.
Denn wie die folgende Grafik verdeutlicht, liegt die Inzidenz zwar aktuell auf einem so hohen Wert wie er zuletzt Anfang Februar verzeichnet wurde. Doch der Aufwärtstrend trat nicht erst mit den jüngsten Beschlüssen ein. Er hat bereits Mitte Februar begonnen.
Am 1. Februar 2021 lag die 7-Tage-Inzidenz in Deutschland, also die Zahl der Neuinfektionen in den zurückliegenden sieben Tagen pro 100.000 Einwohner, bei 90. In den folgenden Tagen sank die Inzidenz bis auf einen Wert von 57, der vom 16. Februar bis 18. Februar gehalten werden konnte. Dann stiegen die Zahlen wieder an – bis auf eine Inzidenz von 84 am Montag, 15. März. Schuld an einem Aufwärtstrend, der bereits am 18. Februar eingesetzt hat, können also nicht die Lockerungen sein.
Folgen der Öffnungen werden sich erst noch zeigen
Generell dauert es immer mindestens eine Woche, bis sich die Auswirkungen von Maßnahmen in den offiziellen Daten des Robert Koch-Instituts (RKI) widerspiegeln. Angenommen, es infizieren sich seit dem 8. März mehr Menschen, weil sie durch die Lockerungen wieder mehr Kontakte haben. Von der Ansteckung bis zum Beginn der Erkrankung vergehen laut Studien meist fünf bis sechs Tage. Erst dann wird ein Infizierter Symptome wie Husten oder Fieber bemerken und einen Corona-Test machen. Bis dessen Ergebnis vorliegt, können je nach Test wieder ein bis drei Tage vergehen. Ein weiterer Tag kommt hinzu, bis das Gesundheitsamt das Testergebnis an das Robert Koch-Institut gemeldet hat und dieses die Daten veröffentlicht.
Die Auswirkungen der Öffnungsschritte am 8. März (Terminshopping, Museen, Galerien, Zoos, Außensport, Treffen von zwei Haushalten) sollten sich also erst seit etwa 15. März in den Zahlen widerspiegeln.
Anstieg der 7-Tage-Inzidenz durch Mutationen?
Wenn sich der Anstieg der 7-Tage-Inzidenz nicht (allein) durch die bundesweit beschlossenen Lockerungen erklären lassen, welche Ursachen könnte es dann geben? Ein Grund könnte die Ausbreitung der Virus-Mutationen, besonders der wohl deutlich ansteckenderen Form B.1.1.7, sein.
Am 10. März 2021 warnte das RKI vor der Entwicklung der Mutante B.1.1.7 in Deutschland: „Die bisher vorliegenden Daten und Analysen zeigen, dass sich der Anteil der VOC B.1.1.7 in den letzten Wochen deutlich erhöht hat. Es ist mit einer weiteren Erhöhung des Anteils der Virusvariante B.1.1.7 zu rechnen, wie dies in den letzten Wochen bereits aus anderen europäischen Ländern berichtet wurde“, heißt es in einem Bericht.
Am höchsten war der Anteil der Mutationen in diesem Zeitraum in Bayern und dem Saarland mit 28,1 beziehungsweise 28,4 Prozent – in Sachsen am niedrigsten mit nur 4,7 Prozent.
Mittlerweile ist die Virus-Variante B.1.1.7 am stärksten in Nordrhein-Westfalen vertreten. Dort stieg der Anteil der Variante an allen positiven Corona-Tests von zwei Prozent Anfang Januar auf 23 Prozent Ende Februar. In Bremen, Hamburg und Schleswig-Holstein lag er zuletzt bei 20 Prozent, in Bayern nur knapp darunter bei 19 Prozent. Der geringste Anteil wurde bislang in Sachsen (4 Prozent) und Sachsen-Anhalt (6 Prozent) dokumentiert.
„Aktuell wird B.1.1.7 in 55 Prozent der untersuchten positiven Proben in Deutschland gefunden, also in ca. jeder zweiten Probe“, schreibt das RKI zur Gesamtentwicklung im Land. „Mittlerweile ist die VOC B.1.1.7 die häufigste in Deutschland detektierte SARS-CoV-2-Variante. Das ist besorgniserregend, weil B.1.1.7 nach bisherigen Erkenntnissen ansteckender als andere Varianten ist.“
Experten gehen nach aktuellem Kenntnisstand davon aus, dass B.1.1.7 zwischen 30 und 50 Prozent ansteckender ist als das ursprüngliche Virus. Breitet es sich in Deutschland aus, kann das zu einem extrem starken Anstieg der Neuinfektionen führen.
Hinweis zur Genauigkeit der Daten
Schätzungen zum Anteil einer bestimmten Virus-Mutation an den gesamten Neuinfektionen in Deutschland sind mit Vorsicht zu genießen. Nicht jede Probe wird automatisch auf Virus-Mutationen untersucht. Laut den Daten des RKI wurden in Deutschland von Anfang Januar bis Ende Februar nur etwa drei Prozent aller positiven Corona-Tests im Labor sequenziert. Auch gezielte Untersuchungen von Ausbrüchen können dazu führen, dass Datensätze verzerrt werden.
Das Robert-Koch-Institut weißt außerdem darauf hin, dass die Meldedaten stets gewissen Verzögerungen unterliegen. Folglich können beispielsweise Zahlen zu Mutationen in Meldewoche 08 auch nachgemeldete Fälle aus Woche 07 beinhalten.
Weitere Hinweise auf höhere Tödlichkeit britischer Virus-Variante
Grund zur Besorgnis bereitet die Ausbreitung der Virus-Mutation B.1.1.7 nicht nur, weil sie ansteckender ist. Eine Analyse britischer Forscher hat weitere Hinweise dafür erbracht, dass die zuerst in Großbritannien entdeckte Coronavirus-Variante B.1.1.7 tödlicher ist als das ursprüngliche Virus. Der Studie zufolge, die im Fachmagazin „Nature“ veröffentlicht wurde, rechnen die Wissenschaftler der London School of Hygiene and Tropical Medicine mit einem um 55 Prozent höheren Sterberisiko bei Infektionen mit B.1.1.7 im Vergleich zu dem ursprünglichen Virus.
Bekannte Risikofaktoren wie Alter, Geschlecht und Ethnie seien dabei berücksichtigt worden. Das absolute Sterberisiko bei einer Coronavirus-Infektion erhöhe sich für einen Mann aus der Gruppe der 55- bis 69-Jährigen damit von 0,6 auf 0,9 Prozent innerhalb von vier Wochen nach einem positiven Test.
In die Studie aufgenommen wurden Daten von rund 2,2 Millionen positiven Fällen in Großbritannien vom 1. September 2020 bis zum 14. Februar 2021. Rund die Hälfte davon war im Labor genauer auf die Variante untersucht worden. Rechne man ungeprüfte und möglicherweise mangelhaft untersuchte Fälle von B.1.1.7 mit ein, müsse sogar von einem schätzungsweise 61 Prozent höheren Sterberisiko im Vergleich zur Ursprungsvariante ausgegangen werden, hieß es weiter.
Eine kurz zuvor im „British Medical Journal“ veröffentlichte Analyse hatte ähnliche Ergebnisse erbracht. Forscher der University of Exeter ermittelten dabei ein rund 64 Prozent höheres Sterberisiko bei einer Infektion mit B.1.1.7 im Vergleich zu anderen Corona-Varianten. Die Wissenschaftler hatten die Todesfälle von knapp 110 000 infizierten Menschen im Alter von über 30 Jahren analysiert, die in Corona-Testzentren gekommen waren. Mehrere Studien haben gezeigt, dass die aktuellen Impfstoffe Todesfälle zum größten Teil verhindern können.