Corona-Hotspot in NRW Gütersloh-Lockdown kam zu spät: Virologe sagt, ob das jetzt ganz Deutschland droht
23. Juni 20201550 nachweislich mit dem Coronavirus infizierte Schlachthof-Mitarbeiter im Kreis Gütersloh bescheren Deutschland den ersten lokalen Lockdown – doch kommt der deutlich zu spät, kritisiert Virologe Friedemann Weber. Was das für das Risiko eines zweiten republikweiten Lockdowns bedeutet.
Nach dem massiven Corona-Ausbruch beim Fleischkonzern Tönnies in Rheda-Wiedenbrück gelten im Kreis Gütersloh in Nordrhein-Westfalen von Dienstag an wieder harte Einschränkungen des privaten wie öffentlichen Lebens. Treffen und Spaziergänge sind nur noch mit Personen des eigenen Haushalts oder maximal zwei anderen Personen erlaubt, Fitnessstudios, Saunen, Bars und Museen sind wieder dicht. Schulen und Kitas waren bereits vor Verkündung des Lockdowns geschlossen worden.
Der Gießener Professor für Virologie Friedemann Weber hatte das massive Einschreiten der Laschet-Regierung bereits am Montag im Gespräch mit FOCUS Online prognostiziert, einen Weg vorbei am temporären Lockdown zumindest des Kreises sah er nicht. Zudem mahnte er die Notwendigkeit umfassender Tests bei Mitarbeitern des Schlachtbetriebes und deren Kontaktpersonen an, um mögliche Infektionsketten zurückzuverfolgen und wirksam zu unterbrechen.
Virologe nennt NRW-Lockdown überfällig – und möglicherweise zu kurz
Diese Einschätzung erneuert der Virologe am Dienstagnachmittag: Der Lockdown in Gütersloh sei richtig, doch komme er zu spät. Bei regionalen Häufungen von Ansteckungen sei es demnach wichtig, schnell zu handeln „und nicht lange rumzudiskutieren“, moniert er. In Gütersloh wurde genau das aus seiner Sicht nicht getan. Die Infektionszahlen waren schon zu lange zu hoch, der Lockdown überfällig. „Das Virus ist wie ein nerviger Vertreter; wenn man die Tür nicht schnell genug zuschlägt, hat er schon den Fuß drin“, illustriert Weber seine Einschätzung.
Ähnlich sieht das der Infektiologe Christoph Spinner, Oberarzt am Münchner Klinikum rechts der Isar. Bei FOCUS Online erklärt er: „Die Erfahrung der ersten Welle zeigt, dass nur entschlossenes und zeitnahes Handeln die Ausbreitung kontrollieren kann.“ Andernfalls bestehe, gerade im Hinblick auf die anstehende Urlaubszeit, die mit mehr Reiseaktivität verbunden sei, sehr schnell die Gefahr einer weiteren Ausbreitung. Zögern könne dann fatale Auswirkungen haben.
Laschet-Entscheidung sei „mutig“
Auch die zunächst nur für eine Woche vereinbarte Dauer des jetzt beschlossenen Lockdowns bis zum 30. Juni hält Virologe Weber für fraglich: „Ich hätte gesagt, es müssen mindestens zwei Wochen sein. Das ist ja auch die Standardzeit für die Quarantäne. Und der Lockdown bedeutet im Grunde nichts anderes, als dass man einen ganzen Landkreis unter Quarantäne stellt“, erklärt der Virologe. „Daher finde ich es verwunderlich, dass man meint, nach einer Woche sei alles wieder geregelt.“
Zwar hatte es bereits zuvor Maßnahmen zur Eindämmung des Infektionsgeschehens wie die Schulschließungen gegeben. „Den Lockdown nur so kurz durchzuhalten, halte ich aber für mutig.“
Als Grund für die zunächst nur relativ kurz anvisierte Dauer der Beschränkungen sieht der Professor weniger epidemiologische Erwägungen als einen politischen Kompromiss. Ob es weitere Lockdowns in benachbarten Regionen geben wird, erachtet Weber daher ebenfalls für fraglich und abhängig von weit mehr als den Fallzahlen. „Es wurde bestimmt um den Lockdown gerungen. Ob es weitere geben wird, darüber werden Politiker entscheiden“, erklärt er. Dass es sie aus wissenschaftlicher Sicht aber geben sollte, „wenn man sieht, es gibt wieder eine Klumpung von Fällen“, sei unstrittig.
Virologe fordert schnelles und hartes Eingreifen
„Überall dort, wo die Infektionszahlen lokal rasch ansteigen, muss man eingreifen; je schneller und härter, desto besser“, sagt Weber – „für das Infektionsgeschehen, nicht für die Betroffenen. Das ist vollkommen klar“, schränkt er ein. Für möglichst viele Disziplinen vertretbare Kompromisslösungen seien allerdings elementar, um das Infektionsgeschehen dauerhaft im Griff zu behalten.
Droht Deutschland jetzt ebenfalls der Lockdown?
Die Gefahr eines zweiten Lockdowns, der künftig nicht nur für den Kreis Gütersloh, sondern das gesamte Land gelten könnte, sieht Weber bislang jedoch nicht. So steigt die Zahl der Ansteckungen mit dem neuen Coronavirus derzeit zwar wieder an; flächendeckend aber bei Weitem nicht so extrem wie in dem nordrheinwestfälischen Hotspot.
Trotzdem hofft der Virologe, dass der lokale Lockdown vielen, die in den vergangenen Tagen und Wochen möglicherweise zu leger mit dem Virus umgegangen sind, das Risiko einer weiteren Ausbreitung zurück vor Augen führt. „Das Virus liegt in Lauerstellung und nutzt jede Schwäche aus. Man kann daher nur an die Bevölkerung appellieren, dass sie sich weiterhin an die Regeln hält.“
Schlachthöfe bieten Coronaviren alles, was sie brauchen
Insbesondere gelte das für Schlachthöfe, führt er aus, denn sie bieten dem Virus eine optimale Ausbreitungsumgebung – und „ein Infektionsszenario wie aus dem Lehrbuch“: „Die Luft ist kalt und feucht. Das stabilisiert die Viruspartikel; sie leben also schlicht länger. Und durch die Kälte haben die Menschen tendenziell eher einen raueren Hals, das Immunsystem funktioniert nicht so gut, weil Körperteile wie zum Beispiel die Nase nicht so gut durchblutet werden.“
Zudem ginge es in vielen Schlachthöfen laut und hektisch zu, die Zeit für jeden Arbeitsschritt ist knapp, genauso wie der Abstand zwischen den Mitarbeitern. „Das bedeutet enormen Stress. Wenn es da irgendwo an einer Stelle hängt, kann ich mir gut vorstellen, dass jemand dem anderen mal zuruft: Mach schneller. Durch das Schreien gelangen dann enorm viele Viruspartikel in die Luft, zehn- bis hundertmal mehr als normal.“
Verschärfend sind in der Fleischindustrie viele Leiharbeiter für teils nur sehr überschaubare Zeiträume tätig; ziehen von einem Ort zum nächsten. Wohnen vielfach in Gemeinschaftsunterkünften. „All das sind perfekte Bedingungen für das Virus.“ Selbst vorschriftsmäßige Hygienemaßnahmen wie der konsequente Einsatz von Mund-Nasen-Bedeckungen könnten das Ansteckungsrisiko unter diesen Umständen nicht gänzlich unterbinden, meint Weber.
„Vielzahl an infizierten Menschen legt Ausbreitung seit einiger Zeit nahe“
Infektiologe Spinner ergänzt: „Der aktuelle Ausbruch zeigt sehr eindrücklich, wie leicht sich Sars-CoV-2 ohne entsprechende Regulation (social Distancing, MNS, etc.) ausbreiten kann. Hierbei besteht auch die Möglichkeit, dass Umgebungsbedingungen, wie das Zusammenarbeiten von Menschen auf begrenzter Fläche ohne Mund-, Nasebedeckung in einer feucht-, kalten Umgebung, erheblichen Einfluss auf die Ausbreitung haben.“ Die Vielzahl an infizierten Menschen lege ihm zufolge eine (unbemerkte) Ausbreitung bereits seit einiger Zeit nahe.
Falsche Corona-Tests durch Rinder?
Da auch Rinder Coronaviren in sich tragen können, kursiert im Netz gerade eine zunächst abenteuerlich klingende These: Aktuelle Corona-Tests könnten auch aufgrund anderer Rinder-Coronaviren fälschlicherweise positiv ausfallen, da sie beim engen Kontakt der Schlachthof-Mitarbeiter vom Tier auf den Menschen übergehen könnten. Diese Gefahr sieht Virologe Weber nicht.
Zwei Gründe sprächen dagegen: Einerseits bestehe der ursprünglich von der Berliner Charité unter der Leitung von Christian Drosten entwickelte Test auf das neuartige Coronavirus Sars-CoV-2 aus drei Untertests; der Abstrich wird also auf drei unterschiedliche Genschnipsel gescannt. „Dass alle drei zufällig Übereinstimmungen mit einem Rinder-Coronavirus aufweisen, ist sehr unwahrscheinlich.“
Andererseits sei der Test spezifisch für das neue Coronavirus konzipiert worden und entsprechend intensiv getestet, so dass er auf andere Coronaviren als Sars-CoV-2 eben nicht anschlägt. „Coronaviren, die in Rinder vorkommen, sind evolutionär noch viel weiter entfernt von Sars-CoV-2 als andere humane Coronaviren. Daher erachte ich falsche Tests aufgrund von Rinder-Coronaviren für ausgeschlossen.“
Schlachthöfe könnten zu Brandbeschleunigern werden
Schlachthöfe sollten dem Professor zufolge aber weiterhin weit oben auf dem Corona-Radar von Gesellschaft und Politik verbleiben. Sonst könnten sie zu Brandbeschleunigern in der Corona-Pandemie avancieren. Identifiziert das Gesundheitsamt eine Corona-Infektion, müsste der jeweilige Betrieb daher umgehend geschlossen werden und sämtliche Mitarbeiter getestet werden.